»Dan-Mali? Wie kann man bloss so heissen?«
»In Siam klingen unsere Namen wahrscheinlich auch nicht sehr vertraut.«
Marie-Anne setzte sich an den Tisch. Die Stimmung war geladen. Den Gehilfen wurde die Diskussion allmählich peinlich. Sie wechselten Blicke.
»Wir leben schon lange nicht mehr wie Mann und Frau«, sagte Charles, »das hat dich nie gekümmert. Wieso macht es dir denn jetzt etwas aus, wenn ich jemanden habe? Du hast deine Hunde.«
»Du bist unglücklich mit mir, nicht wahr?«, fragte sie zornig.
»Ich kenne keinen Mann, der unter diesen Umständen glücklich wäre. Ein nettes Wort ist manchmal mehr wert als eine warme Kohlsuppe.«
Marie-Anne sprang von ihrem Schemel hoch und verliess wutentbrannt die Wohnküche. Barre grinste über beide Ohren und blickte zu Firmin, der sich tief über seine Suppe beugte und versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Desmorets schob seinen Teller beiseite und nahm den Courrier de Versailles zur Hand. Er machte ein sehr besorgtes Gesicht.
»Ist was?«, fragte Charles.
»Sie kennen den Journalisten Gorsas?«
Charles nickte.
Marie-Anne betrat erneut die Küche.
»Oh, du bist schon wieder zurück«, sagte Charles.
Marie-Anne zog einen Laib Brot aus dem Holzofen. »Wenn ich mich nicht kümmere, lasst ihr es verkohlen.«
Das Brot duftete herrlich und verströmte ein angenehmes Gefühl von Wärme. Aber die Stimmung blieb frostig.
»Wie viel bezahlst du ihr?«, fragte Marie-Anne. Als Charles schwieg, setzte sie nach: »Oder bezahlst du sie gar nicht?«
»Hast du den langen Ritt gemacht, um mir diese Fragen zu stellen?«
»Nein, ich habe dir die Zeitung gebracht. Sonst bist du der einzige Mensch in Paris, der es nicht weiss.«
Desmorets schob Charles die Zeitung mit einem vielsagenden Blick zu. »Lesen Sie den Leitartikel«, sagte er mit einer Bestimmtheit, die Charles aufhorchen liess. »Gorsas schreibt, dass Royalisten einen Umsturz planen, um die Revolution rückgängig zu machen.«
»Das schreiben sie doch alle«, sagte Charles, »um uns auf Trab zu halten.«
»Aber er schreibt, dass es die Henker Frankreichs sind, die den Umsturz planen. Und wer ist der führende Henker des Landes?«
Charles blickte zu seiner Frau hoch. Mit durchdringendem Blick fixierte sie ihn, als habe er sich etwas zuschulden kommen lassen.
»Er schreibt, dass die konterrevolutionären Flugblätter in Ihrem Schuppen gedruckt werden«, sagte Desmorets.
Nun nahm Charles die Zeitung in die Hand und las. Tatsächlich, Gorsas verdächtigte ihn und kündigte an, er werde Anzeige gegen den Henker von Paris erstatten. Marie-Anne schenkte wortlos Kaffee nach. Sie sah aus, als würde sie bald keine Luft mehr kriegen.
Henri und Gabriel betraten die Wohnküche. Neben seinem athletischen Bruder wirkte Gabriel zierlich und zerbrechlich. Er stockte, bevor er sich neben Charles setzte. Henri stellte sich blitzschnell hinter ihn, denn er wusste, dass sich Gabriel manchmal sehr verspannte, wenn die Aufregung zu gross wurde. Dann konnte er die Beine nicht mehr steuern und fiel hin.
»Falls mir etwas zustösst«, sagte Charles, »übernimmt Henri die Herrschaft über das Schafott. Ihr«, fügte er an und blickte zu den Gehilfen, »macht eure Arbeit wie gewohnt. Und ihr gehorcht ihm, wie ihr mir gehorcht habt.« Er ergriff Henris Hand. »Und achtet darauf, dass keiner die Kleider der Hingerichteten an sich nimmt. Das könnte uns das Amt kosten.«
Desmorets nickte ernst. »Wir tragen das Inventar wie bisher in die Listen ein und übergeben alles den Behörden. Sie können sich auf uns verlassen.«
»Wieso sprichst du so«, fragte Marie-Anne gehässig, »hast du irgendetwas Unrechtes getan?« Sie schaute ihn vorwurfsvoll an.
Fast im gleichen Augenblick klopfte es energisch an der Haustür. Barre erhob sich, um zu öffnen.
Soldaten der Nationalgarde drangen in die Wohnküche und umringten Charles. »Sie stehen unter Arrest«, sagte der Anführer. »Auf Befehl von Staatsanwalt Fouquier. Ihnen werden royalistische Umtriebe vorgeworfen.«
»Kann ich wenigstens noch meinen Kaffee austrinken?«
»Nein«, antwortete der Offizier. »Wo steht die Druckmaschine?«
»Desmorets wird Sie hinbringen.« Charles gab seinem Gehilfen einen Wink und trank demonstrativ seinen Kaffee leer. Er verbrühte sich dabei den Mund. Desmorets führte einige Soldaten in den Hof, während die anderen Charles mitnahmen.
Sie fuhren Charles zur Conciergerie. Von weitem sah er die riesigen geschwärzten Mauern mit den Gitterfenstern, die sich am Ende des Quai du Nord wie prähistorische Ungeheuer erhoben. Es war ihm nie aufgefallen, wie bedrohlich sie wirkten. Doch jetzt, da seine Hände gefesselt waren, war es unverkennbar. Wenn man Angst hat, wird alles bedrohlich. Als sie durch das eiserne Tor in den Hof gelangten, packten ihn die Soldaten an den Armen.
»Das ist nicht nötig«, sagte Charles, »ich habe keinen Grund zu fliehen.«
Wie einen Schwerverbrecher führten sie ihn in das Büro von Antoine Fouquier. Der Chefankläger blickte kurz auf und gab den Soldaten mit einer abschätzigen Bewegung zu verstehen, dass sie gehen sollten. Antoine lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Charles emotionslos. Er bot ihm keinen Stuhl an.
»Der Henker als Verdächtiger in meinem Kabinett, wer hätte das gedacht?«, murmelte Fouquier.
»Was liegt gegen mich vor, Antoine?«, fragte Charles knapp.
»Antoine? Hast du die korrekte Anrede schon wieder vergessen?« Fouquier war enttäuscht, dass Charles keine Angst zeigte. Er starrte ins Leere. Sein Gesicht war noch hagerer geworden, obwohl allseits bekannt war, dass er wie alle Revolutionäre einer Flasche Rotwein und üppigem Essen nie abgeneigt war. »Bürger Sanson, in deinem Schuppen haben wir eine Druckerpresse sichergestellt, mit der Schmähschriften gegen die Revolution gedruckt wurden.«
»Ich brauche den Schuppen nicht, ich habe ihn vermietet.«
»Bürger Sanson, die Nation wird von allen Seiten bedroht. Fremde Truppen stehen an unseren Grenzen. Das Ausland fürchtet, dass unsere Revolution auf ihre Länder überschwappt. Zu Recht. Unsere Revolution wird die ganze Welt erobern. Man kann Ideen, deren Zeit gekommen ist, nicht aufhalten. Und im Innern? Aristokraten brüten Komplotte aus. Sie wollen die Monarchie zurück. Aber die Monarchie, die kommt nie wieder. Wieso also, Bürger Sanson, hilfst du jenen, die die Errungenschaften der Revolution zunichtemachen wollen? Trifft es zu, was Gorsas in seiner Zeitung unterstellt, dass sich alle Henker Frankreichs gegen die Revolution vereint haben?«
»Nein, die Henker Frankreichs ziehen nicht am gleichen Strang.«
Fouquier lachte. »Wie wahr, jeder Henker hat seinen eigenen Strang.«
»Mir war nicht bekannt, was die jungen Leute in meinem Schuppen drucken. Sie erwähnten Revolutionslieder, die sie im Palais Royal verkaufen wollten. Es hat mich auch nicht zu interessieren. Ich bin Monsieur de Paris und nicht der Spitzel irgendeiner Behörde.«
»Das siehst du falsch. Wachsamkeit ist das Gebot der Stunde. Und wer uns nicht dient, ist gegen uns. Aber sag mal, Bürger Sanson, reicht dein Gehalt nicht aus, dass du deinen Schuppen vermieten musst?«
»Ich werde in Assignaten bezahlt. Bis ich zu Hause bin, ist das Papier nichts mehr wert. Mein Gehalt ist ohnehin knapp bemessen. Da immer mehr Verurteilte aufs Schafott geschickt werden, nehmen die Ausgaben zu, aber nicht die Einnahmen. Ich habe mittlerweile sechzehn Personen zu versorgen, meine Familie, vier Gehilfen, Knechte, Fuhrmänner, der Hufschmied kostet bereits fünfzig Livre pro Pferd. Prämien und Pensionen bezahle ich von meinem Lohn. Dazu kommt, dass ich seit Jahren von so vielen Armen bestürmt werde, dass ich um jede zusätzliche Einnahmequelle froh bin. Es ist Tradition in unserem Haus, den Armen zu helfen. Und in diesen Zeiten sind sie dringend auf unsere Hilfe angewiesen.«