Vor der Conciergerie warteten bereits Tausende von Schaulustigen. Der Karren kam kaum voran. Endlich verliess Lafayette, der Kommandant der Nationalgarde, den Innenhof des Gefängnisses, zwängte sich am Karren vorbei und übernahm unter dem fröhlichen Applaus der Menge die Führung. Die zähflüssige Fahrt zum Schafott dauerte über zwei Stunden. Die Menschen standen dichtgedrängt in den Strassen und Gassen, sie lehnten sich aus den Fenstern. Die Adligen sassen auf ihren Balkonen. Ein Flugblatt beschrieb den Ablauf der Hinrichtung wie eine Theateraufführung. Zwischen den Arkaden waren Würstchenbuden eingerichtet worden. Die umliegenden Restaurants hatten den Namen des Verurteilten auf der ersten Seite der Speisekarte gedruckt. Auf jedem Tisch stand eins von Tobias Schmidts Miniaturmodellen der Maschine, mit denen man Karotten und Spargel köpfen konnte. Als der Karren vorbeizog, wurde Pelletier verhöhnt und verspottet. Man hörte die unmöglichsten Wortschöpfungen. Bald würde er »in den Sack spucken«, das »Rasiermesser der Nation« würde ihn bestrafen. Ein stadtbekannter Clown namens Jacot schwang sich plötzlich auf eins von Charles’ Pferden, schnitt Grimassen und machte sich über den Verurteilten lustig. Während das Publikum ihm applaudierte, nahm Charles seine Peitsche und trieb den Clown wieder in die Menge zurück. War denn der Tod nicht Strafe genug? Pelletier wurde von verfaultem Gemüse getroffen und wollte unter der Sitzbank Schutz suchen, aber Charles hinderte ihn daran. So wollte es das Protokoll, das ihm Fouquier überreicht hatte.
Als sie auf die Place de Grève einbogen, sahen sie die beiden Balken des Blutgerüsts senkrecht in den Himmel ragen. Das Fallbeil blitzte für einen kurzen Augenblick in der Sonne. Henri hatte mit den Gehilfen ein ansehnliches Schafott errichtet und die Louisette darauf installiert. Lafayettes Reiter umringten das Schafott. Pelletier wurde die Holztreppe hinaufgeführt. Er schien erstaunt, als er von oben über die Place de Grève blickte. So viele Menschen waren gekommen, um ihn sterben zu sehen. Charles rief Pelletiers Namen laut über den Platz und zählte dessen persönliche Gegenstände auf, während Henri den Verurteilten zusammen mit Gros, Barre und Firmin auf das senkrechte Holzbrett band. Sie kippten es wie eine Schaukel in die Waagerechte und stiessen es nach vorn zwischen die beiden senkrechten Balken. Und schon sauste das Fallbeil herunter, und der abgetrennte Kopf plumpste wie ein abgesägter Ast in den Weidenkorb. Während das Blut noch wie eine Fontäne aus dem Rumpf spritzte, klatschten einige Beifall. Aber die meisten waren enttäuscht, besonders die Weiberfurien, die um das Schafott herumstanden, um die Todgeweihten mit vulgärem Spott zu verhöhnen. Es war alles so schnell gegangen, dass man den Ablauf gar nicht begriffen hatte. Keine minutenlange Agonie in siedendem Wasser, kein Würgen, wenn der Hals am Strick hing, kein Zischen, wenn Extremitäten verbrannt wurden, nichts. Henri nahm den bluttriefenden Kopf aus dem Korb und zeigte ihn der Menge. Vereinzelte Buhrufe waren zu hören. »Gebt uns unseren Galgen zurück«, schrien einige. Dann skandierten sie immer lauter: »Gebt uns unseren Galgen zurück.«
Noch immer floss das Blut aus dem Rumpf des Hingerichteten. Charles stand auf der obersten Stufe des Schafotts und beobachtete aufmerksam, ob sich in der Menge irgendeine Bewegung bildete, die der Maschine feindlich gesinnt war.
»Es mag brutal sein, aber es ist gerecht, und die Schnelligkeit der Abwicklung steht im Einklang mit dem humanitären Gedanken, der dahintersteckt.« Es war Gorsas, der mit ernster Miene das Gespräch suchte. »Was haben Sie empfunden, Bürger Sanson? Lassen Sie es unsere Leser wissen.« Mit diesen Worten drängte sich Gorsas an Charles heran.
»Ich habe ein Strafurteil vollstreckt«, antwortete Charles, »an meinen Händen klebt kein Blut mehr. Ich beginne diese Maschine zu mögen.«
»Die Maschine hat jetzt einen Namen«, sagte Gorsas, »Guillotine. Das hat der König entschieden, um seinen Hausarzt zu schützen. Doktor Guillotin hat protestiert, aber er ist zu schwach. Seine Nachkommen werden ihn wohl verfluchen, denn ihr Name bleibt jetzt auf ewig mit der Tötungsmaschine verbunden. Die Ironie des Schicksals erheitert mich immer wieder. Das ist der Stoff, aus denen ich meine Geschichten mache.« Gorsas hob kurz die Hand zum Gruss. »Auf ein anderes Mal, Monsieur de Paris. Ich muss noch vor Redaktionsschluss meinen Bericht abliefern.«
Charles schaute Gorsas nach. Dieser nuckelte mit gewichtiger Miene an seiner Pfeife und bahnte sich enerviert einen Weg durch die Menge, die er insgeheim verachtete. Dann sah Charles die kleine Frau, die an Gorsas vorbeischlich. Es war Dan-Mali. Sie hatte ihn wahrscheinlich die ganze Zeit über beobachtet. Dan-Mali blieb vor der Treppe zum Schafott stehen. Charles stieg zu ihr hinunter. Sie legte die Hände unter dem Kinn aneinander und senkte ehrfürchtig den Kopf.
»Charles«, sagte sie und blickte ihn bewundernd an, »ich wusste nicht, dass du Menschen hinrichtest. Ich bedaure, dass ich dir nicht den nötigen Respekt entgegengebracht habe.« Charles musterte sie skeptisch. »Nur heilige Menschen dürfen in Siam Menschen hinrichten«, fuhr sie fort. »Sie werden eins mit dem Verurteilten und vereinen sich mit den Göttern.«
»Warst du nicht schon mal bei einer Hinrichtung? Als Damiens gefoltert wurde?«
»Nein«, sagte Dan-Mali, »du musst mich verwechselt haben.«
Nun wurde es eng um das Schafott herum. Immer mehr Menschen drängten zum Weidenkorb, um den abgetrennten Kopf mit einem Schaudern, aber nicht ohne Faszination anzuschauen. Einige tunkten ihr Taschentuch in das Blut. Die Gehilfen luden die Leiche in den sargähnlichen Weidenkorb und legten den Kopf zwischen die Beine.
»Ich muss zum Friedhof«, sagte Charles zu Dan-Mali.
»Darf ich morgen zu dir kommen?«, fragte sie bittend.
»Bleib bei mir. Du kannst bei mir wohnen. Wir haben Platz genug.« Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. In diesem Moment setzte Regen ein, und die Menge begann sich aufzulösen.
Charles liess seine Gehilfen zurück, damit sie die Guillotine abbauen konnten, und bat Henri, neben dem Leichnam im Karren Platz zu nehmen. Dan-Mali setzte sich neben Charles, der die Zügel ergriff. Einige von Lafayettes Gardesoldaten bahnten den Weg zum nächsten Vorstadtfriedhof. In der Abenddämmerung erreichten sie das von Fouquier angeordnete Massengrab auf dem Friedhof Madeleine. »Einzelgräber sind aus Platzgründen nicht mehr möglich«, hatte er gesagt, »es werden zu viele folgen.«
An der Friedhofsmauer sprang Henri vom Wagen und öffnete das Eisentor. Sie fuhren zu der frisch ausgehobenen Grube im Süden. Dort nahmen sie den kopflosen Leichnam und warfen ihn hinein. Sie schütteten eine Mischung aus Ammoniak, Kohlensäure und Wasser über die Leiche. Anschliessend bedeckten sie sie mit einer gehörigen Portion Löschkalk. Da trat plötzlich eine junge Frau zwischen den Grabsteinen hervor und rief: »Monsieur de Paris!« Charles hielt sie für eine Schaulustige, die ihr Taschentuch mit Blut besudeln oder abgetrennte Gliedmassen ergattern wollte. »Kann ich den Kopf haben?«
»Nein«, antwortete Charles, »es ist mir verboten, Handel zu treiben.«
»Ich bezahle nichts, dann ist es kein Handel. Ich brauche ihn nur für eine halbe Stunde.«
»Wozu?«, fragte Charles ungeduldig.
»Ich betreibe zusammen mit meinem Onkel Philippe Curtius das Wachsfigurenkabinett im Palais Royal. Ich will den Kopf nachmodellieren, der als Erster unter das Fallbeil kam.«
»Fragen Sie die Staatsanwälte Fouquier oder Roederer, von mir kriegen Sie keine Köpfe«, sagte Charles, packte den losen Kopf am Haar und warf ihn in die Grube.
»Ich werde meine Köpfe bekommen«, sagte sie trotzig.
»Sicher, und mehr, als Ihnen lieb ist.«
»Wie lange soll das noch dauern?«, fragte Marie-Anne wütend, als sie, ohne anzuklopfen, die Pharmacie betrat.