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»Sie bleibt jetzt hier. Wir haben ja darüber gesprochen«, sagte Charles. »Sie wird mir in der Pharmacie helfen und kochen.«

»Was wird sie denn kochen?«, höhnte Marie-Anne. »Heuschrecken, die Speiseröhren von Hühnern und komisches Zeug, das dir die Zunge verbrennt?«

»In Siam essen sie auch Hunde.«

Marie-Anne lief rot an. »Das reicht! Ich gehe zu meiner Schwester. Hier werde ich eh nicht mehr gebraucht.« Sie stampfte den Flur hinunter, durchquerte die Küche und sah Dan-Mali ein Feuer machen. Sie wollte etwas sagen, etwas Hässliches, doch dann ging sie wortlos in den Hof hinaus, um ihr Pferd zu satteln.

Antoine Fouquier hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und schaute zum Fenster hinaus. Charles stand immer noch vor seinem Schreibtisch und wartete. Fouquier hatte gute Laune und vergass darüber sogar das herablassende Duzen. »Gratulation zur geglückten Hinrichtung. Ihre Maschine funktioniert tatsächlich, aber Ihr Freund, dieser deutsche Klavierbauer, wird den Auftrag dennoch nicht erhalten. Roederer möchte einen Verwandten begünstigen. Dieser ist zwar viel teurer, aber eben verwandt. Sehen Sie, hier kommt wieder zum Zuge, wovor ich Sie bereits im Internat gewarnt habe. Adelsblut schlägt Wissen, und Verwandtschaft schlägt Qualität. Sie werden nie eine Chance haben, Charles. Ihr lebt in Grotten, und ihr werdet die Felsdecke über euren Köpfen nie durchbrechen können. Aber Leute wie ich, die werden frei geboren, und nur der Himmel kann uns Grenzen setzen.«

»War das alles?«, fragte Charles unbeeindruckt.

Fouquier ignorierte die Frage. Sie schien ihm ein bisschen frech zu sein. »Ist dir mittlerweile ein Name eingefallen?«, stichelte er.

Charles atmete tief ein und blies die Luft wieder aus.

»Also, ich warte auf Namen. Nenn mir wenigstens einen einzigen Namen.« Fouquier wandte sich wieder dem Fenster zu und schaute in den Hof hinunter. »Übrigens: Die Kleine vom Friedhof hat sich hier beschwert. Ihr solltet der Dame die Köpfe jeweils für eine halbe Stunde ausleihen. Die Menschen sollen die Opfer der Revolution sehen. Das wirkt abschreckend. Es werden viele Köpfe werden. Denn die Gruben in den Friedhöfen sollen voll sein und nicht unsere Gefängnisse. Bürger Sanson, ich warte immer noch auf Namen. Einen einzigen Namen!«

»Pater Gerbillon«, hörte sich Charles sagen.

»Ich habe es nicht ganz verstanden«, sagte Fouquier. »Pater …?«

»Pater Gerbillon«, wiederholte Charles, »ein Jesuit. Er wurde als Mathematiker des Königs nach Siam geschickt.«

»Ich erinnere mich, Gorsas hatte es kürzlich erwähnt. Unser Mathematiker sollte dort den Sternenhimmel beobachten und neue Seekarten zeichnen, stattdessen hat er die Ärsche von kleinen Jungs und kleinen Mädchen beobachtet. König Rama I. wird uns noch den Krieg erklären …« Er lachte. »Gerbillon genoss stets die Protektion des Hofes, weil er«, und nun schrie Fouquier, »ein gottverdammter Royalist ist. Ich hasse ihn. Ich habe ihn immer gehasst!«

Charles hob kurz die Augenbrauen, als wollte er sagen: Nun ja, so wird es wohl sein.

»War das so schwierig, Bürger Sanson?« Als Charles gehen wollte, sagte Fouquier: »Dein Freund, der Orgelbauer, kann die Guillotine bauen: dreiundachtzig Stück zu neunhundertsechzig Livre. Wenn eine versagt, ist der restliche Auftrag storniert.«

»Aber Sie sagten doch …«

»Du hast mir einen Namen geschenkt, also zeige auch ich mich erkenntlich. So hast du die einmalige Gelegenheit, die Spielregeln zu begreifen. Und wer weiss, Bürger Sanson, vielleicht könnten wir doch noch zu alter Freundschaft zurückfinden.«

Tobias Schmidt war betrunken. Er lag auf einem ausrangierten Sofa in seiner Werkstatt und murmelte unverständliches Zeug. An den Wänden hingen neue Skizzen. Eine zeigte eine Riesenguillotine, mit der man gleichzeitig vierundzwanzig Menschen köpfen konnte. Als Charles die Halle betrat, sprang Schmidt hoch, wurde aber sogleich von einer Übelkeit befallen. Er strauchelte und atmete tief durch. »Ich bin gleich so weit«, keuchte er und kniete sich auf den Boden. »Roederer will mir den Auftrag nicht geben«, jammerte er, »angeblich sei ich zu teuer und die Qualität sei schlecht. Das wäre der Auftrag meines Lebens, über achtzig Guillotinen, für jedes Departement eine.« Schmidt schnappte nach Luft. Er hatte Mühe mit dem Kreislauf.

»Kann ich Ihnen helfen, Monsieur Schmidt?« Charles reichte ihm die Hand.

Schmidt lehnte ab und zeigte auf ein Brett, das entlang der Wand am Boden lag. Darauf standen Dutzende von kleinen Guillotinemodellen, nicht grösser als ein Unterarm. »Spielzeugguillotinen«, seufzte Schmidt, »gibt es etwas Beschämenderes für einen Erfinder, als sein Genie an Kinderspielzeug zu vergeuden? Ich habe hydraulische Maschinen erfunden, neuartige Kamine und das berühmte Piano, das die Effekte von Bratsche, Cello und Geige vereint. Ich bin daran, eine Methode zu erfinden, um Gemüse und Obst zu konservieren, und verderbe mir im Selbstversuch jeden Tag den Magen. Und jetzt stelle ich Spielzeug her. Sagen Sie mir, gibt es irgendetwas Beschämenderes? Das ist so, als würden Sie einem erfolgreichen General ein Schaukelpferd geben.«

Charles half ihm auf die Beine. »Roederers Cousin verlangte 5660 Livre, Sie aber nur dreihundertvierzig …«

»Und vierundzwanzig für den Leinensack. Ein Weidenkorb wäre noch billiger.« Schmidt schien das Gleichgewicht zu verlieren, fing sich wieder auf und torkelte durch die Halle. »Ich werde alles niederbrennen«, schrie er, »alles!«

»Das hat Zeit bis morgen«, sagte Charles. »Zuerst bauen Sie die Guillotinen, zum Stückpreis von neunhundertsechzig Livre. Das ist ein Befehl von Fouquier. Roederer hat eingewilligt.«

Schmidt stürzte sich auf Charles und umarmte ihn überschwänglich. »Dreiundachtzig Guillotinen, das macht insgesamt, warten Sie, knapp achtzigtausend Livre! Monsieur Sanson, ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.«

»Mir wäre wichtig, immer noch die Zeit zu finden, mein Klavier zu stimmen und Gabriels Beinschienen anzupassen. Er stürzt in letzter Zeit wieder öfter«, sagte Charles.

»Versprochen«, sagte Schmidt und nickte mit ernster Miene. Dann begannen seine Augen zu funkeln, und er schubste Charles zu einer Werkbank, wo zahlreiche offene Konserven herumstanden. »Ich versuche zurzeit, die Dosen mit Blei zu verschliessen. Blei soll giftig sein. Die alten Römer sind bereits daran gestorben, weil ihre Wasserleitungen aus Blei waren. Aber ich verwende nur wenig Blei. Es kommt kaum mit der Nahrung in Kontakt. Wenn mir das gelingt, werden die Menschen ganze Strassenzüge nach mir benennen.« Schmidt liess sich erneut auf seine Couch fallen und griff blind nach der angebrochenen Weinflasche, die auf dem Boden stand. Er leerte sie und liess sie dann auf die unebenen Holzbohlen kollern.

»Schön und gut, aber fangen Sie jetzt gleich mit den Guillotinen an«, drängte Charles.

Als er nach Hause kam, war Dan-Mali nicht mehr da.

In der Nacht auf den 10. August 1792 läuteten in ganz Paris die Sturmglocken. Es musste nach Mitternacht sein, Charles dachte an einen Grossbrand und stand auf. Er trat mit Henri auf die Strasse hinaus. Von überall her strömten die Menschen aus ihren Häusern. Die meisten waren bewaffnet. Die Menschenmassen bewegten sich in Richtung Tuilerien. Einige Wochen zuvor hatten sie es bereits einmal getan, waren in den Palast eingedrungen, wo der König und seine Familie festgesetzt waren, hatten Louis XVI angefasst und zum Anstossen auf ihr Wohl mit einem Glas Wein gezwungen. Doch diesmal ging es um mehr. Es gab das Gerücht, dass preussische und österreichische Truppen die Grenze nach Frankreich überschritten hatten und nun den König retten wollten. Die benachbarten Monarchien fürchteten einen revolutionären Flächenbrand. Was sich in Paris abspielte, war eine zweite Revolution. Die radikalen Sansculotten hatten eine eigene Stadtverwaltung nominiert und waren damit zur Gegenregierung der gesetzgebenden demokratischen Nationalversammlung geworden. Die zehntausend Sansculotten, die da marschierten, waren zu allen Taten bereit, um ihren König ein für allemal loszuwerden. Als die Tuilerien in Sichtweite waren, skandierte die Menge: »Tod dem König!« Sie marschierte wie ein Mann auf die rund tausend Schweizergardisten zu, die den König beschützten. Die zweitausend Nationalgardisten, die im Namen der Nationalversammlung den König bewachten, flohen beim Anblick der riesigen Menschenmenge sofort und schlossen sich den wütenden Sansculotten an. Ein grosser Teil der Schweizergarde fiel dem zornigen Volk zum Opfer. Sie wurden erschossen oder so lange durch die Strassen gejagt, bis sie erschöpft zusammenbrachen, und dann mit Macheten wie Hühner geköpft. Es gab keine Ordnungsmacht mehr. Niemand konnte die Menge im Zaum halten. Die Pariser Unterwelt erwachte zu neuem Leben. Sie strömte ins Freie, beglich offene Rechnungen, tobte sich aus, kastrierte sterbende Gardisten und warf die Geschlechtsteile durch die Strassen. Die Menschen hatten keine wirklichen politischen Ziele mehr. Sie nutzten das Chaos, den rechtsfreien Raum der Strasse, um zu plündern und die verhassten Reichen abzuschlachten. Es war ein blutiges Volksfest, in dem jeder jeden öffentlich töten konnte, ohne dafür bestraft zu werden. Louis XVI, Marie Antoinette und ihre Kinder wurden infolge dieser Ereignisse in den Temple gebracht, während die Nationalversammlung noch radikalere Positionen einnahm, um den Zorn der Sansculotten zu besänftigen. Die Abgeordneten waren schockiert, aber machtlos.