Im August wurde auch ein neues Straftribunal ohne Berufungsmöglichkeiten eingerichtet, das beim kleinsten Verdacht auf »Verschwörung« sofort die Todesstrafe aussprechen konnte. Die Leute bekamen es mit der Angst zu tun und verkrochen sich in ihren Häusern.
»Es ist nicht mehr in Ordnung, was jetzt geschieht«, sagte Charles zu Henri, als sie nach getaner Arbeit Stricke schmierten. Es war ein liebgewordenes Ritual, das ihnen half, die Hinrichtungen des Tages zu vergessen, obwohl sie dank der Guillotine gar keine Stricke mehr benötigten. Viel Blut floss zwischen den Holzbohlen des Schafotts auf das Pflaster hinunter und verströmte einen üblen Geruch, der nur noch Hunde anlocken konnte. Die Menschen protestierten nicht gegen die Schlächterei, sondern gegen den Gestank. Charles und seine Gehilfen installierten die Guillotine deshalb auf der Place du Carrousel vor dem grossen Tor der Tuilerien.
Robespierre rief zur Volksjustiz an den Feinden der Revolution auf. Er versuchte damit, die entfesselte Masse wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch stattdessen stürmten Bewaffnete und Nationalgardisten die Gefängnisse und massakrierten über tausend Kleinkriminelle. Die edlen Ziele der Revolution waren ins Groteske gekippt.
Trotz der Massenmorde nahm Charles’ Arbeit von Woche zu Woche zu. Jeden Morgen sprach er in der Conciergerie bei Fouquier vor, um die am Abend zu vollstreckenden Urteile abzuholen. Zwischen Prozess, Verurteilung und Hinrichtung lagen manchmal nur noch wenige Stunden. Die Revolutionäre vertraten den Standpunkt, dass es besser war, zehn Unschuldige zu töten, als einen Schuldigen zu übersehen.
»Preussische Truppen haben die Grenze überschritten«, schrie Chefankläger Fouquier, als Charles sein Büro betrat. »Wer jetzt keinen Patriotismus beweist, den überlassen wir der Volksjustiz. In dieser Stunde stürmen Tausende erboster Bürger die Gefängnisse und nehmen dir die Arbeit ab. Sie metzeln alle nieder.«
»Wo bleiben da die edlen Ziele der Menschenrechte?«, fragte Charles sarkastisch.
»Vorsicht! Vorsicht, Bürger Sanson! Ich sagte dir schon mal, jede Revolution wird im Blut geboren. Der Nationalkonvent hat den König abgesetzt und in den Temple gebracht. Hättest du für möglich gehalten, dass du eines Tages den König guillotinierst?«
»Noch lebt er«, sagte Charles, »es gibt kein Urteil.«
»Der Nationalkonvent hat keine Macht mehr. Jetzt regiert die Strasse, die aufständische Kommune.« Fouquier reichte ihm die aktuelle Liste der zum Tode Verurteilten. Charles überflog sie: Assignatenfälscher, ein Journalist, ein Schuhmacher. Plötzlich sprang ihm ein Name ins Auge: Pater Gerbillon. Ausserdem fiel ihm ein stadtbekannter Handwerker von bestem Leumund auf, der lediglich seine Meinung geäussert hatte. »Noch Fragen, Monsieur de Paris?«
Charles schüttelte den Kopf.
Fouquier rückte seinen Stuhl zurecht und nahm eine distanzierte Haltung ein. »Ich hörte, dass der Clown Jacot ab und zu deinen Umzug begleitet und die Menge mit seinen Kapriolen erheitert. Du sollst ihn mit der Peitsche vertrieben haben.«
»Das ist richtig«, antwortete Charles, »eine Exekution soll nicht in ein Volksfest ausarten. Ich pflege die Urteile mit Würde zu vollstrecken.«
»Wer schreibt das vor?«, fragte Fouquier und schaute Charles verächtlich an. »Wer bist du? Vertrittst du etwa die Revolutionsregierung? Eine Exekution ist ein Volksfest der Revolution. Nimm den Kerl auf deine Lohnliste. Das ist ein Befehl. Wir müssen das Volk bei Laune halten, wer weiss, was wir ihm in den nächsten Monaten noch alles zumuten müssen. Und vollstrecke erst nach Einbruch der Dämmerung. Statte das Schafott mit Fackeln aus. Wir wollen sehen, ob das Volk das mehr schätzt.«
Charles nickte zögerlich.
»Du hast noch etwas auf dem Herzen, ich sehe es dir an.«
»Ich möchte endlich mein Amt an meinen Sohn Henri übergeben.«
»Schweig! Ich will kein Wort davon hören! Das ist wohl der dümmste Augenblick, um diese Bitte vorzutragen. Du wirst den König guillotinieren, denn du bist der Henker der Revolution. Henri ist bloss ein Geselle. Du aber bist der Arm der Guillotine. Manch einer kommt zu den Hinrichtungen, nur um dich zu sehen.«
Marie-Anne hatte sich wieder einmal mit ihrer Schwester zerstritten. Plötzlich stand sie in der Küche und kochte eine Erbsensuppe. »Zum Glück bin ich wieder da«, sagte sie, »ohne mich läuft hier ja gar nichts. Ihr lasst die Zügel schleifen. Und ausserdem gehört Gabriel aufs Schafott. Er kann nicht den ganzen Tag Klavier spielen.« Sie servierte die Suppe.
»Gabriel ist den schönen Künsten zugetan«, sagte Charles und rührte entnervt in seiner Suppe.
»Damit verdient man kein Geld«, ereiferte sich Marie-Anne, »der Henkersberuf ist einer der sichersten Berufe in unserem Land, weil es immer einen Henker brauchen wird.«
»Eines Tages«, sagte Gabriel, »wird die Todesstrafe abgeschafft, und wir werden keinen Henker mehr brauchen.«
»Diesen Tag wirst du nicht mehr erleben«, schrie Marie-Anne. »Robespierre wollte die Todesstrafe abschaffen. Es ist ihm nicht gelungen. Wem soll es also gelingen?«
»Lass ihn doch endlich in Ruhe«, sagte Henri dezidiert. »Er will nun mal nicht Henker werden.«
»Misch dich nicht ein«, herrschte ihn seine Mutter an, »du hast bloss Angst, die Nachfolge deines Vaters …«
»Hört jetzt auf zu streiten«, sagte Charles und klopfte mit der flachen Hand energisch auf den Tisch. »Henri wird mein Nachfolger in Paris, das ist beschlossen, und wenn Gabriel will, werde ich ihm in einer anderen Stadt ein Amt besorgen, aber wenn er nicht will …«
»Er soll wenigstens ein einziges Mal auf das Schafott steigen, dann weiss er, ob er es wirklich nicht will.«
»Wieso bist du überhaupt zurückgekommen? Niemand hat dich vermisst«, sagte Charles.
»Ich bin immer noch die Mutter«, sagte Marie-Anne trotzig, »ob es euch passt oder nicht.«
»Nun gut«, sagte Gabriel und schob seinen Teller beiseite, »hört auf zu streiten, ich werde morgen Abend aufs Schafott steigen«.
Draussen fiel der erste Schnee. Ein beissender Wind blies zwischen den Fensterritzen ins Haus. Desmorets entfachte ein grosses Feuer im Kamin. Und Charles setzte sich mit Gabriel ans Klavier.
Die Dunkelheit war bereits angebrochen, es begann leicht zu schneien. Fackeln beleuchteten das Schafott und tauchten die Hinrichtungsstätte in ein gespenstisch flackerndes Licht. Charles vermied es, Pater Gerbillon anzuschauen. Erst als sie das Schafott erreicht hatten, trafen sich ihre Blicke. Charles half ihm beim Aussteigen. Gabriel stieg als Erster unter dem Applaus der Zuschauer die Treppe zum Schafott hoch. Zuerst wurden gemäss Protokoll die Assignatenfälscher nacheinander guillotiniert. Charles blieb unten an der Treppe stehen und schaute zu seinen Söhnen und Gehilfen hoch. Als Gabriel den Kopf eines Hingerichteten der Menge zeigte, führte Charles einen Journalisten auf das Schafott und stieg wieder hinunter. Jetzt traf ihn der Blick von Pater Gerbillon erneut. Es war ein trauriger Blick, melancholisch, aber nicht ängstlich. Charles fühlte sich mies, schäbig. Er schämte sich, dass dieser Mann seinetwegen sterben musste. Doch dann versuchte er, sich einzureden, er habe keine andere Wahl gehabt und der Pater habe es ob der Behandlung von Dan-Mali ausserdem verdient. Der Kopf des Journalisten fiel in den Korb. Charles führte nun Pater Gerbillon die Treppe zum Schafott hoch. Kaum hatte er das Schafott wieder verlassen, hörte er die gewaltige Eisenklinge heruntersausen und den Kopf des Jesuitenpaters in den Weidenkorb fallen. Gabriel nahm ihn an den Haaren und hob ihn hoch. Die Menge applaudierte, johlte, lachte, ein Menschenleben hatte keine Bedeutung mehr. Im flackernden Licht der Fackeln bewegte sich Gabriel langsam über das Schafott und schritt es bedächtig ab, als wollte er es vermessen. Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares: Gabriel war verschwunden. Als hätte ihn ein Windstoss davongetragen. Er stand einfach nicht mehr auf dem Schafott. Charles schaute hinauf und suchte seinen Sohn. Die Menschen, die um das Schafott standen, begannen entsetzt zu schreien. Sie bildeten einen Halbkreis um den am Boden liegenden Gabriel. Er war in der Dunkelheit vom Schafott gestürzt. Die Haare des Paters waren plötzlich gerissen, und Gabriel hatte mit einer reflexartigen Bewegung den Kopf auffangen wollen. Dabei war er auf den verschneiten Holzbohlen ausgeglitten.