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Bevor er wegfuhr, zog sich Jouenne in seine Pharmacie zurück und zerstampfte zwei Artischocken. Er gab Apfelschnaps und pulverisierte Rinde des Yohimbebaumes dazu, die einige Soldaten aus der Neuen Welt mitgebracht hatten. Zu guter Letzt fügte er noch das Pulver der Macawurzel hinzu, einer heiligen Pflanze der Inkas, die spanische Seefahrer nach Marseille gebracht hatten. »Probier es heute Abend aus«, sagte Jouenne zu Jean-Baptiste, »und gib mir Bescheid, wie schnell und wie stark es wirkt. Es ist gut für Galle und Leber und fördert die Durchblutung.« Als er die Skepsis in Jean-Baptistes Gesicht sah, lachte er kurz auf. »Du kannst daran nicht sterben, Chevalier. Es wird dir nicht schaden. Im schlimmsten Fall wird es nichts nützen.«

Jouenne hielt in einem kleinen schwarzen Buch genau fest, wie er den Drink gemixt hatte, und verabschiedete sich dann.

Als Jean-Baptiste am Abend die Pferde versorgt hatte, betrat Joséphine die Scheune. Sie schien heiter und ausgelassen. Er wusste nicht, woran es lag. Irgendwie war sie schöner als sonst. Oder es fiel ihm erst jetzt auf, wie schön sie eigentlich war.

»Jetzt sind wir allein«, sagte sie unvermittelt und blieb vor ihm stehen. Sie bat ihn dann wie üblich in die Küche. Sie hatte Bohnen gekocht und mit Speck und Zwiebeln angebraten. Sie assen, ohne ein Wort zu sprechen.

»Wir verstehen uns ohne grosse Worte«, sagte Joséphine. Er nickte.

Nach einer Weile reichte sie ihm den Artischockenschnaps. »Trink das«, sagte sie lächelnd. »Für die Wissenschaft.«

Jean-Baptiste trank den Becher in einem Zug leer. Es schmeckte ein wenig bitter, aber der Alkohol machte das Getränk recht bekömmlich. Als er den Becher wieder abstellte, streckte sie ihre Hand aus. Er ergriff sie, und sie sagte: »Schlaf doch im Haus, Jean-Baptiste.« Er zögerte. »Die Nächte sind immer noch kühl«, sagte sie, lächelte etwas unbeholfen und erhob sich. Sie hielt noch immer seine Hand. Behutsam führte sie Jean-Baptiste hinter die Leinensäcke, die an der Decke hingen und die Küche vom Nachtlager trennten. Sie löste die Bänder ihrer Schürze. Dann zog sie ihr Hemd aus und schaute ihn erwartungsvoll an. Fast synchron hatte auch er begonnen, sich zu entkleiden, zuerst zaghaft, vorsichtig, dann immer rascher und voller Leidenschaft. Nach jedem abgelegten Kleidungsstück hatte er innegehalten und gewartet, bis auch sie so weit war. Ihre Zielstrebigkeit gefiel ihm.

Sie sassen gemeinsam in der Küche und assen Kohlgemüse und die Taube, die Jouenne vor seiner Abreise mit einem Spaten erschlagen hatte.

»Ich fühle mich so satt«, sagte Joséphine.

Jean-Baptiste antwortete mit einem Lächeln und schaute sie lange an.

»Ich wäre dir eine gute Frau«, flüsterte sie, als könnte sie seine Gedanken erraten.

»Ich weiss«, sagte er. »Du bist sehr tüchtig und auch sehr lieb. Und du hast ein gutes Herz.«

Joséphine lächelte zufrieden. »Du auch, wir würden gut zusammenpassen.«

»Vielleicht ist es noch zu früh«, sinnierte er.

»Zu früh?«, empörte sie sich. »Kinder muss man in jungen Jahren gebären. Worauf willst du noch warten?«

»Auf einen Wink des Schicksals.«

»Ich glaube nicht an das Schicksal. Alles liegt in deiner Hand. Du entscheidest über den Weg, den du gehen willst.«

Ihre Worte erstaunten ihn. Er ergriff ihre Hand und nickte. Zärtlich fuhr er über ihren Handrücken.

Ihre Liebe blieb nicht ohne Folgen. Joséphine wurde schwanger. Als sie eines Morgens beim Brunnen zwischen Haus und Scheune ohnmächtig wurde, rannte Meister Jouenne ihr zu Hilfe und trug sie ins Haus, in ihre Kammer. Nach einer Weile trat er wieder ins Freie und stampfte zur Scheune hinüber. Er riss das knarrende Holztor auf. Das Licht blendete Jean-Baptiste. Er lag noch auf seinem Strohlager. Jouenne ergriff die grosse Streitaxt hinter dem Tor und ging auf ihn zu.

»Joséphine ist schwanger. Wirst du sie heiraten?«

Jean-Baptiste schwieg.

»Hör mir jetzt gut zu, Chevalier, ich kümmere mich um meine Gesellen und Hilfskräfte. Wenn sie krank werden, wenn sie alt und gebrechlich sind, behalte ich sie bei mir und gebe ihnen ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit, das ist die Tradition der Henker. Wir köpfen und hängen Verbrecher, aber wir übernehmen Verantwortung für das Schicksal der Unsrigen.«

Jean-Baptiste fühlte sich bedroht und genötigt nachzugeben. In diesem Augenblick hasste er Jouenne. Schon wieder wollte jemand sein Schicksal bestimmen. Auch die Satteltasche kam ihm wieder in den Sinn. Jouenne hatte ihn bestohlen. »Ja«, hörte er sich sagen, »ich werde sie heiraten.« Und dann fügte er mit gepresster Stimme hinzu: »Nach der Geburt werde ich mit Joséphine und dem Kind nach Paris ziehen.«

Jouenne legte die Axt auf den Boden. Er war sichtlich irritiert. »Es ist gut, dass du sie heiraten willst, aber es ist nicht gut, dass du das Gehöft verlassen willst. Was willst du in Paris? Hungern? Stehlen? Paris ist eine Kloake, Dreck, Unrat, nachts sind die Gassen unsicher, die Menschen haben keine Arbeit, zu wenig Brot, sie verhungern. Bleib hier. Du könntest mein Nachfolger werden, und eines Tages würde dein Sohn dein Nachfolger sein.«

»Ich will meinen Nachkommen den Fluch ersparen. Sie sollen frei sein. Es ist nicht jedermanns Sache, das Leben eines Geächteten zu leben.«

»Fass keine voreiligen Beschlüsse, Chevalier, denk darüber nach. Nach einigen Nächten wirst du vielleicht deine Meinung ändern. Henker werden gut bezahlt. Und hier auf dem Land findest du immer ein paar Kartoffeln. Aber die wirst du nicht brauchen. Weil du der Henker bist. Hier erlaubt uns das Gesetz die Havage: Du darfst auf dem Markt so viel Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch an dich nehmen, wie du mit zwei Armen fassen kannst. Sogar Eier. Alles umsonst.«

»Ich weiss. Haben Sie etwa vergessen, dass ich einer Henkersdynastie entstamme? Und haben Sie vergessen, dass ich mein bisheriges Leben damit verbracht habe, diesem Schicksal zu entkommen?«

»Chevalier«, sagte Jouenne in ungewöhnlich väterlichem Ton, »ich würde dir alles beibringen über die Pflanzenheilkunde. Wir würden nicht nur Urteile vollstrecken, wir würden sogar Kartoffeln anpflanzen.«

»Ich dachte, die gibt es nur in der Neuen Welt.«

»Nein«, sagte Jouenne und lachte. »Im Burgund pflanzen sie bereits Kartoffeln an. Ich habe einige in meinem Garten. Sie schmecken sehr gut, und die Schale lindert Brandschmerzen.« Seine Gesichtszüge wurden weich und sanft. Er wünschte sich so sehr, dass Jean-Baptiste blieb und sie alle zusammen eine Familie würden. »Chevalier, vergiss nicht, was ich dir damals in der Kapelle gesagt habe. Du kannst dein Schicksal erkennen, aber du kannst ihm nicht entrinnen. Das ist der Fluch. Wenn du dich dagegen aufbäumst, wird das Leben dich brechen.«

»Nein, nein«, insistierte Jean-Baptiste, »wenn ein Mensch sein Schicksal erkennt, kann er ihm entrinnen. Der Mensch ist frei, Meister Jouenne.«

»Der Mensch war noch nie frei«, sagte Jouenne mit unheilvoller Stimme, »der Mensch tut ein Leben lang Dinge, ohne zu verstehen, wieso er sie tut. Er ist wie ein Tier, das eine Fährte aufgenommen hat und nie mehr davon ablässt.«

Im Februar 1739 setzten die ersten Wehen ein. Jouenne bat Jean-Baptiste, in die Stadt zu reiten und eine Hebamme zu holen.

»Ich dachte, der Henker kann das auch«, sagte Jean-Baptiste erstaunt.

»Mir fehlt die Übung«, erwiderte Jouenne. »Wenn es irgendeine Frau wäre, würde ich es tun, aber nicht bei Joséphine. Sie braucht die beste Hebamme der Stadt.«