Charles bahnte sich einen Weg durch die Gaffer und kniete neben Gabriel nieder. Er schob seine Hand unter den Kopf und fühlte sofort, dass das Genick gebrochen war. »Gabriel«, flüsterte Charles, dann nahm er seinen Sohn in beide Arme und brüllte laut in die Nacht hinaus: »Gabriel!« Tränen strömten über seine Wangen. »Der Henker weint«, sagte jemand, und plötzlich hörte man von allen Seiten: »Der Henker weint.« Nach einer Weile legte Henri Charles die Hand auf die Schulter. »Lass uns gehen, Vater. Gabriel gehört nach Hause.« Henri trug seinen Bruder in den Wagen und fuhr allein über den schneebedeckten Platz, der vom warmen Blut der Getöteten eingefärbt war. Charles blieb noch lange auf der untersten Stufe des Schafotts sitzen.
Der Platz war bereits menschenleer, als er sich auf den Weg nach Hause machte. Niemand erwartete ihn. Das Haus war leer. Offenbar hatten Henri und die Gehilfen Gabriels Leichnam zur Aufbahrung in die Kapelle gebracht. Als Charles in den Hof trat, um in seine Räume zu gelangen, sah er am Rande der schneebedeckten Gemüsebeete eine Gestalt auf der Bank. Er ging auf sie zu, es war Marie-Anne. Er blieb einige Schritte vor ihr stehen. Er wollte sie berühren, liess es dann aber sein. Zu oft hatte sie ihn abgewiesen. »Ich brauche dich nicht«, murmelte sie und blickte kurz hoch. Ihr Gesicht war schwer gezeichnet, ihre Augen verweint.
»Du wirst dich erkälten«, sagte Charles, »komm ins Haus. Es wird kalt heute Nacht.«
»Dann werde ich mich eben erkälten«, antwortete sie, »du denkst eh, es sei alles meine Schuld.«
Charles wollte verneinen, schwieg dann aber, denn er war tatsächlich der Meinung, dass es ihre Schuld war.
»Ich hätte dich nie im Leben heiraten sollten«, sagte Marie-Anne. Der Abscheu stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Meine Mutter hatte mich gewarnt, aber ich wollte auf sie nicht hören. Sie sagte, auf dem Geschlecht der Sansons laste seit Generationen ein Fluch. Sie sollte recht behalten.«
»Es gibt keine Flüche, Marie-Anne, das ist nur der Versuch der Menschen, den Dingen einen Sinn zu geben. Wir sind frei. Und auch ich bin frei, Marie-Anne. Ich werde mein Amt niederlegen und dich verlassen.«
»Du kannst mich verlassen, Charles, aber der Fluch wird dich verfolgen. Denk daran. Ich reite morgen zu meiner Schwester.«
»Sie wird sich freuen«, sagte er. »Und wenn ich morgen Abend von der Arbeit nach Hause komme, wäre es schön, wenn du nicht mehr da wärst.«
Er ging in die Pharmacie, setzte sich aufs Bett und trank Wein. Er war plötzlich unendlich müde und fühlte sich wie ein manövrierunfähiges Schiff auf hoher See. Mit grosser Zärtlichkeit dachte er an Gabriel und empfand es als Trost, dass er nicht gelitten hatte. Wenig später entwickelte er einen fürchterlichen Zorn gegen seine Frau. Doch dann kam ihm der Gedanke, dass Gott ihn bestraft hatte. Er hatte ihm seinen Sohn genommen im Austausch gegen das Leben von Pater Gerbillon. Er glaubte plötzlich, dass Gott ihn beobachtete. Nicht Gorsas hatte ein Auge auf ihn, sondern Gott. Er war bestraft worden. Der Fluch war zurück. Marie-Anne hatte vielleicht doch recht. Dann glaubte er draussen am Fenster eine Gestalt zu erkennen. Wollte Gott ihn besuchen? Nein, er glaubte nicht an solche Geschichten. Es war Marie-Anne. Sie entfernte sich wieder und ging ins Haus. Charles trank und trank und schlief schliesslich ein.
Gegen Mittag des folgenden Tages schlief er immer noch. Niemand weckte ihn. Henri hatte die Geschäfte übernommen. Charles hörte, wie der Fuhrwagen den Hof verliess. Er drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Er wollte nur noch schlafen und nicht mehr aufwachen. Dann kam ihm Dan-Mali in den Sinn, und sein Atem wurde gleichmässiger und sein Schlaf ruhiger.
Als er wieder aufwachte, spürte er eine kleine, zarte Hand, die ihn an der Wange berührte. Das konnte nicht Marie-Anne sein. Ihre Hände waren von der Gartenarbeit rau und trocken und rochen stets nach nassem Hundefell. Diese Hand roch nach Mandelöl. Er presste sie fest an sich und schlief wieder ein. Als er erneut aufwachte, war er allein und wusste nicht, was er geträumt und was er tatsächlich erlebt hatte. Irgendwann brachte ihm Desmorets einen Teller Suppe. »Madame sagt, Sie sollten etwas zu sich nehmen. Sie ist jetzt weggeritten.« Charles stellte den Teller auf den Tisch.
Später weckte ihn Henri. »Da draussen ist ein Reiter. Er hat nach dir gefragt.«
»Was will er?«
»Ich weiss es nicht. Vielleicht ist er krank oder verletzt.«
»Lass ihn rein«, sagte Charles und stand auf. Die Abwechslung würde ihm guttun. Trotz aller widrigen Ereignisse freute es ihn, dass jemand ihn aufsuchte. Als Arzt. Der Reiter trug einen schwarzen Kapuzenmantel und kniehohe Lederstiefel. Bevor er die Pharmacie betrat, klopfte er die Stiefel gegeneinander, um den Schnee abzuschütteln.
»Legen Sie Ihren Mantel auf die Ofenbank. Dann kann er trocknen.«
»Danke, Monsieur«, sagte der Reiter und nahm seinen Kapuzenmantel ab. Darunter trug er einen vornehmen Zweiteiler aus blauem Stoff. Er setzte sich Charles gegenüber auf einen Stuhl und nahm eine lederne Geldbörse aus seiner Innentasche. Er lockerte den Lederriemen, so dass Charles die Goldstücke darin sehen konnte. »Ich habe sehr einflussreiche Freunde«, begann der Reiter behutsam, »sie sind unserem König treu ergeben. Sie erbitten nichts Unmögliches von Ihnen. Vor einer Stunde wurde unser König zum Tod verurteilt. Wir werden ihn auf dem Weg zum Schafott befreien.«
»Gehen Sie«, sagte Charles und hob abwehrend die Hände, »für kein Geld auf der Welt bin ich für ein Komplott zu gewinnen.«
»Ich weiss«, sagte der Reiter, »deshalb wage ich es auch, Sie aufzusuchen. Ich weiss, dass Sie ein rechtschaffener Mann sind. Wir bitten Sie nur, nichts zu unternehmen, das die Befreiung unseres Königs vereiteln könnte. Bleiben Sie einfach ruhig auf Ihrem Kutschbock, und rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ihnen wird nichts geschehen.«
»Ich will dieses Geld nicht«, sagte Charles, »ich mag die willkürlichen Gesetze verurteilen, die heute gelten, aber ich muss sie befolgen. Ich bin ein Beamter der Justiz.«
Der Reiter erhob sich. »Das Geld lasse ich hier. Wenn Sie es nicht wollen, geben Sie es den Armen. Gott schütze unseren König.«