»Gott schütze unseren König«, flüsterte Charles. Der Gedanke, dass sein König unter seiner Guillotine enthauptet würde, brach ihm das Herz. Andererseits, dachte Charles, hatte der König sein Schicksal sich selbst zuzuschreiben. Er hatte die Liebe seines Volkes nie erwidert. Er hatte nichts, aber auch gar nichts für sein hungerndes Volk getan. »Er hat es nicht anders gewollt«, murmelte Charles, »er allein trägt die Schuld.«
11
Am 21. Januar 1793 notierte Charles in sein Tagebuch: »Der Tod des Königs.« Schwierig, dieses Ereignis in Worte zu fassen, denn bisher galt der König als unantastbar, geradezu als von Gott gesandt. Bevor die Kirchenglocke an diesem Morgen acht Uhr schlug, setzte sich Charles mit seinen Gehilfen Barre, Firmin, Desmorets und Gros in einen Wagen und fuhr los. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto zahlreicher wurden die Menschen in den Strassen. Schliesslich waren es Massen, dichtgedrängt, die ihren Wagen umklammerten wie ein grosser Krake. Charles und seine Gehilfen passierten einen Militärkordon nach dem anderen. Es waren Tausende mit Gewehren und Piken bewaffnete Soldaten, die unter Santerre, dem neuen Befehlshaber der Nationalgarde, die Strassen sicherten. Es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Gejohle, keine Rufe, einfach Stille, als hätten sich alle zu einer sakralen Handlung zusammengefunden. Als sie schliesslich gegen zehn die Place de la Révolution erreichten, thronte das Blutgerüst mit der majestätischen Guillotine bereits über dem Platz. Erneut war Charles von dieser Erscheinung beeindruckt. Das Gerüst unter freiem Himmel hatte eine Erhabenheit, als würde hier ein zeremonielles Opfer dargebracht.
Henri stand bereits auf der Plattform des Podests. Er gab einem berittenen Soldaten ein Handzeichen, seinem Vater den Weg zu bahnen. Charles fühlte, wie sich seine Brust immer heftiger hob und senkte. Er tastete unter seine Jacke und versicherte sich, dass Dolch, Pistole, Pulverbüchse und Kugeltasche noch fest verzurrt waren. Er hatte Angst. Die Drohbriefe in den letzten Tagen waren so zahlreich gewesen, dass er nicht daran zweifelte, dass man den Verurteilten befreien würde. Immer wieder schaute er zum Ausgang der Rue de la Révolution, er konnte keine Bewegung in den Massen ausmachen, keine Kutsche, die den Unglücklichen zum Schafott fuhr. Doch plötzlich hörte er Geräusche von Hufen und Rufe. Ein Kavalleriekorps sprengte heran. Die Oberkörper der Kavalleristen ragten aus der Menge, und dann sah Charles die königliche Kutsche. Er setzte sich kurz auf das Brett der Guillotine und atmete tief durch. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Schweiss trat ihm aus allen Poren. Es kostete ihn Überwindung aufzustehen. Er fühlte keinen Halt mehr unter den Füssen. Die Holzbohlen bewegten sich und schienen davonzuschwimmen. Er dachte an Gabriel. Er dachte an Dan-Mali, und schon bald wusste er nicht mehr, woran er gerade gedacht hatte. Nur ein grauenhaftes Gefühl der Beklemmung erfasste ihn.
»Geh nach unten«, sagte Henri, »warte am Fuss der Treppe, und gib mir das Zeichen.« Charles nickte. Eine Totenstille hatte sich über den Platz gelegt. Man hörte nur noch die Pferdehufe.
Die königliche Kutsche hielt vor dem Schafott. Soldaten lösten sich aus ihren Reihen und bildeten ein Viereck um die Kutsche. Dann stieg der König aus. Ruhig, nachdenklich, aber ohne jegliches Zeichen von Panik. Er wirkte würdevoller und erhabener, als Charles ihn in Erinnerung hatte. Sein irischer Priester stand ihm zur Seite und murmelte Gebete. Desmorets ergriff die Initiative, während Charles und die anderen drei Gehilfen wie versteinert den Verurteilten anstarrten. Voller Ehrfurcht und Respekt erklärte Desmorets dem Todgeweihten, dass es gemäss Vorschrift seine Pflicht sei, ihm seine Kleider abzunehmen. Er wollte nach dem Rock des Königs greifen, doch dieser wich empört zurück. »Nehmt meinen Rock, aber rührt mich nicht an!«, sagte der Mann, der vor kurzem in ganz Europa noch als König Louis XVI bewundert worden war. »Wir müssen dir auch die Hände binden und Haare und Kragen entfernen. Das ist Vorschrift, Bürger Capet.« Er nannte ihn tatsächlich Bürger Capet.
Plötzlich sah der König Charles direkt in die Augen, und alle Energie und Kraft wichen aus Charles’ Körper. Für einen Augenblick wollte er niederknien und den König der Franzosen um Verzeihung bitten. Aber dann kam ihm die Würde seines Amtes in den Sinn. Wegen dir sind Tausende gestorben, dachte Charles, Hunderttausende, und dank der Revolution haben wir Menschen unsere Würde zurückerhalten. Wieso zum Teufel hast du nicht frühzeitig und freiwillig auf den Thron verzichtet? Weil du alles behalten wolltest, hast du nun alles verloren. Der Tod des Königs ist der Preis für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Charles ging ein paar Schritte auf den König zu. »Das Binden der Hände ist notwendig. Wir können sonst unsere Arbeit nicht ausführen«, sagte er leise. Der König nickte, ohne seinen Henker anzuschauen. Doch er rührte sich nicht. Charles bat den Priester, ihm behilflich zu sein. Dieser begriff schnell und flüsterte dem König etwas zu. Sichtlich gedemütigt legte der König die Arme hinter den Rücken. Charles konnte nun die Hände binden, die das Zepter der Könige Frankreichs gehalten hatten. Bevor Louis Capet die Treppe zum Schafott hochstieg, küsste er das Marienbild, das ihm der irische Priester vor den Mund hielt. Kaum hatte er die Plattform des Schafotts erreicht, wandte sich der Bürger Capet an das Volk, das nicht mehr seines war, und schrie mit fester, klarer Stimme: »Franzosen, ihr seht euren König bereit, für euch zu sterben. Könnte doch mein Blut euer Glück besiegeln. Ich sterbe ohne Schuld.«
Santerre bahnte sich mit seinem Pferd einen Weg zum Schafott und gab den Trommlern ein Zeichen, sofort die Schlägel zu rühren. Die letzten Worte des Königs gingen im ohrenbetäubenden Trommelwirbel unter. Charles drehte sich nach dem irischen Priester um, doch im gleichen Augenblick sauste das schwere Fallbeil herunter, und das königliche Haupt purzelte in den Korb. Charles hatte gar nicht bemerkt, dass man den König bereits auf das Brett geschnallt hatte. Henri nahm den Kopf aus dem Weidenkorb, während eine riesige Blutfontäne aus dem stämmigen Rumpf schoss. Für einen solchen Stiernacken hatte es tatsächlich eine abgeschrägte Klinge gebraucht. Während Henri den Kopf der Volksmenge zeigte, eilten einige mit ihren Taschentüchern zum Schafott. Es gab vereinzelte Rufe »Es lebe die Republik!«, aber ein betretenes Schweigen dominierte den Platz. Die Leute waren peinlich berührt. Jetzt hatten sie tatsächlich ihren eigenen König guillotiniert.
Charles wurde erneut von einem Schwindel heimgesucht. Bei aller Vernunft empfand er die Tat wie einen Verrat, eine Todsünde, einen Vatermord, und er war überzeugt, dass ihn der Rumpf des Königs in seinen Träumen verfolgen und er in der Tiefe seines Weinglases fortan dessen Kopf mit diesem merkwürdigen Ausdruck sehen würde, der Verblüffung und Erstaunen ausdrückte. Aber er würde diesem Kopf Paroli bieten, denn er hatte es verdient, vom Rumpf getrennt zu werden. Er hatte sein Volk verachtet. »Es lebe die Republik!«, skandierten nun immer mehr Menschen.
Die Gehilfen begannen mit der Demontage der Maschine, während Charles und Henri die Leiche des Königs in ihrem Fuhrwagen zum Friedhof Madeleine fuhren. Sie wurden von Soldaten eskortiert. Kein Souvenirjäger sollte sich an den Kleidern des Königs vergreifen.
Auf dem Friedhof wartete bereits Marie Grosholtz. Widerstandslos erhielt sie den Kopf des Königs und machte sich sofort an die Arbeit, während Charles und Henri den Rumpf entkleideten. Nichts war königlich an diesem toten Körper. Bleich, fett, ohne Würde. Selbst seine Geschlechtsteile waren nicht spektakulär. Nichts von all dem, was er gehortet hatte, hatte er mitnehmen können in die andere Welt. Weder sein Gold noch seine Jagdhunde, noch den Spiegelsaal von Versailles.
Die Zunge zwischen die Zähne gepresst, arbeitete die verrückte Marie blitzschnell und routiniert am Abguss. Talent und Leidenschaft konnte man ihr nicht absprechen. Sie beendete ihre Arbeit rasch. Mit einem Strahlen im Gesicht verabschiedete sie sich. Ihre Kutsche wartete. Ihr schien dieser abgeschlachtete, blutige Leichnam nicht im Geringsten zuzusetzen. Sie lebte nur für ihre Wachsfiguren.