Als Charles den Friedhof verlassen wollte, stand ein kleiner Mann beim Tor. Er trug eine senfgelbe Hose und nuckelte an seiner Pfeife. Gorsas. »Ich wollte mal mitansehen, wie die Kleine die Totenmasken abnimmt. Aber offenbar komme ich zu spät. Halb so schlimm, es werden noch viele Köpfe rollen.« Gorsas stellte sich den Pferden in den Weg. »Kommen Sie, Monsieur de Paris, ich lade Sie zu einem Glas Wein ein. Wir müssen reden.«
Eigentlich hatte Charles zum Jesuitenkloster fahren wollen. Aber er spürte, dass er Gorsas begleiten musste. Vielleicht hatte er ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Vielleicht war er in Gefahr.
Gemeinsam fuhren sie zum Etablissement an der Rue des Deux-Portes. Das Haus war gut besucht, wie meistens nach einer Exekution. Man besprach den Fall und kam jeweils zum Schluss, dass der Verurteilte den Tod verdient hatte. Man demonstrierte damit seine Loyalität gegenüber der Revolution. Die Dienste der Mädchen waren weniger gefragt. Man genoss zwar die Atmosphäre und die viele nackte Haut, aber in erster Linie war man hier, um öffentliche Bekenntnisse abzulegen.
In der Mitte des Hauptsaals sassen die nun mächtigsten Männer Frankreichs: Robespierre und Saint-Just. Selbstbewusst streckten sie die Arme auf den breiten Polstern ihrer Sessel aus. Sie hatten die Guillotine und die Befehlsgewalt darüber. Charles fühlte sich schäbig, ausgenutzt.
»Ich hörte, Sie führen ein Tagebuch«, sagte Gorsas leise, »darf ich mal darin lesen?«
Charles schüttelte irritiert den Kopf. »Wie sollte ich Zeit finden, ein Tagebuch zu führen? Und für wen? Ich habe kein Bedürfnis danach.«
»Na so was, in den Druckereien sind die Tagebücher ausverkauft, aber kein Mensch führt Tagebuch. Wozu kaufen die Menschen sie bloss?« Gorsas grinste vielsagend.
»Das kann viele Gründe haben«, sagte Charles.
»Ich habe bei den Druckereien ein bisschen recherchiert und erfahren, dass Sie ein treuer Kunde sind.«
»Ich brauche sie, um Buch zu führen. Das schreibt mir mein Amt vor. Ich halte die Namen der Verurteilten fest, ihren Beruf, den Grund ihrer Hinrichtung und erstelle eine Inventarliste über ihre letzten Habseligkeiten.«
Gorsas nickte und schmunzelte dabei vieldeutig. Er glaubte Charles kein Wort. »Auch wir Journalisten stehen mächtig unter Druck«, sagte er. »Am liebsten wäre es der Revolutionsregierung, wir würden jeden Tag Bürger verleumden, die man dann unter die Guillotine schicken kann. Aber jeder Bürger ist ein potentieller Leser!« Er lehnte er sich nach vorn und flüsterte Charles zu: »Schauen Sie mal da drüben, unsere neuen Könige.« Er grinste übers ganze Gesicht.
Robespierre hatte Gorsas erkannt und rief ihm zu: »Gorsas, schreiben Sie es auf: Was die Republik ausmacht, ist die vollständige Ausmerzung dessen, was gegen sie ist.«
»Dann wird der Wohnraum in Paris bald sehr günstig«, sagte Gorsas und bestellte Champagner.
»Man muss nicht nur die Verräter in unserem Land bestrafen, sondern auch die Gleichgültigen, jeden, der passiv ist und nichts für die Revolution tut«, fügte Saint-Just mit gewichtiger Miene hinzu.
Robespierre pflichtete ihm bei: »Die Deutschen marschieren im Norden, die Briten im Süden. Marseille hat britische Truppen zu Hilfe gerufen. Wir müssen die Stadt dem Erdboden gleichmachen und fortan ›Stadt ohne Namen‹ nennen, als Warnung. Nur mit beispiellosem Terror können wir die Konterrevolutionäre im Innern ausmerzen, damit wir freie Hand haben für den äusseren Feind an unseren Grenzen.«
»Patrioten«, sagte Gorsas mit einem etwas zynischen Gesichtsausdruck, »soeben habe ich vernommen, dass auch Lyon in britischer Hand ist. Jetzt sind bereits zwei Drittel der dreiundachtzig Departements gegen die Freiheit. Na so was.«
»Sie werden bald alle für uns sein«, sagte Robespierre, »ob aus Überzeugung oder aus Angst, mir ist es egal. Wer jetzt noch den Gemässigten spielt, kann sich schon mal für die Guillotine die Haare schneiden. Es mag sein, dass wir tausend Unschuldige köpfen, aber das ist immer noch besser für die Revolution, als einen Gemässigten zu übersehen.«
»Lieber überfüllte Friedhöfe als überfüllte Gefängnisse«, sagte Saint-Just trocken.
»Kennen wir uns?«, fragte Robespierre, an Charles gewandt.
»Noch nicht«, antwortete Charles und verliess den Raum.
Als Charles und Gorsas das Etablissement verliessen, sprach keiner ein Wort. Stumm gingen sie die Strasse entlang und blieben dann an der Ecke stehen. »Heute war kein Tag, um Champagner zu trinken. Ich muss aufpassen«, sagte Gorsas, »ich habe mir zu viele Feinde gemacht. Irgendwann steht mein Name auf der Liste, und ich spucke in den Sack. Haben Sie schon jemals einen Freund guillotiniert?«
Charles schüttelte den Kopf.
»Sie werden es noch erleben«, sagte Gorsas.
»Warum haben Sie mich heute eigentlich eingeladen?«
Gorsas schaute Charles lange an. »Man weiss heute nicht mehr, wem man trauen kann. Der heutige Abend hat mir gezeigt, dass es gefährlich ist, jemandem zu vertrauen. Hat Sie der Grand Orient de France eigentlich kontaktiert?«
»Nein«, antwortete Charles, »sollte er?«
Gorsas zuckte die Schultern. »Die Menschen haben Angst, Monsieur. Die Angst ist stärker als jedes Gesetz.« Er nuckelte an seiner Pfeife.
»Was wollten Sie mir heute Abend mitteilen, Bürger Gorsas?«
»Ich?«, fragte Gorsas mit scheinheiliger Miene.
»Ja!«, brummte Charles und schaute ihm eindringlich in die Augen.
Gorsas wich seinem Blick aus und schüttelte leicht verwirrt den Kopf. »Ich muss nach Hause, Bürger Sanson, es ist schon spät.« Etwas überstürzt bog er in die schwachbeleuchtete Rue de la Verrerie ein.
Charles folgte ihm. »Wovor haben Sie Angst?«
Gorsas blieb nicht stehen. »Sollte ich?« Er beschleunigte seinen Schritt.
»Ich weiss es nicht. Aber ich sehe, dass Sie Angst haben. Ich kann Menschen lesen, Monsieur. Ein Henker fühlt die Angst der andern.« Er legte Gorsas die Hand auf die Schulter. »Wovor haben Sie Angst?« Sein Ton war beinahe väterlich.
Gorsas schüttelte nervös den Kopf, als wollte er diese Frage nicht mehr hören.
»Ich habe Sie eine Weile nicht mehr gesehen«, sagte Charles. »Waren Sie in Ketten?«
»Nein, nein«, entfuhr es Gorsas blitzschnell, und er schaute ängstlich um sich, »ich war in London, nicht ganz ungefährlich in diesen hektischen Zeiten, aber ich war in London, Monsieur.«
»Warum sind Sie zurückgekommen? Das war nicht klug.«
»Nein, nein, es ist nicht das, was Sie jetzt denken. Ich war beruflich in London. Als Journalist. Kennen Sie die Bank Boyd, Ker & Co.? Das war die stolze Bank des jungen Walter Boyd. Er war mit einer sehr hübschen Kreolin verheiratet. Gemeinsam besuchten sie alle Anlässe des Pariser Geldadels und akquirierten Neueinlagen. Das missfiel unseren Revolutionären. Sie beschlagnahmten seine Bank.« Gorsas zuckte plötzlich zusammen und versuchte, in der Dunkelheit zu erkennen, was dieses seltsame Geräusch verursacht hatte. Ein Fenster wurde geschlossen. Jemand hatte Abfälle in die Gasse geworfen. »Der junge Mann hatte aber einen sechsten Sinn«, fuhr er fort. »Er floh in der Nacht, in der er verhaftet werden sollte, nach London. Und wissen Sie, was er mitgenommen hat?«
»Sie werden es mir sagen«, murmelte Charles. Er wollte eigentlich keine Geheimnisse hören. Das brachte ihn bloss in Gefahr. Einige Hunde rannten an ihnen vorbei und stürzten sich auf die Abfälle, die nun in der Gasse verstreut herumlagen.
»Gold«, flüsterte Gorsas, »das Gold des Pariser Adels. Er hat die Vermögen der Royalisten in Sicherheit gebracht. Ich bin nach London gefahren, um mit ihm ein Gespräch zu führen. Und er hat mir etwas gezeigt, nein, er hat mir etwas mitgegeben …«