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»Und das macht Ihnen Angst?«, fragte Charles misstrauisch.

»Ja, sehr grosse Angst sogar. Denn wenn jemand weiss, dass ich es weiss, stehe ich vor Ihnen auf dem Schafott.«

»Dann möchte ich es lieber nicht wissen«, sagte Charles und blieb stehen.

Gorsas beschleunigte erneut seinen Schritt und bog in die nächste Gasse ein. Sie war kaum beleuchtet. Charles nahm die entgegengesetzte Richtung.

Charles wollte noch nicht nach Hause. Er begab sich zum Jesuitenkloster. Ein Pater öffnete die Tür. Als sich Charles nach Dan-Mali erkundigte, bedauerte der Pater, man sei in der Kapelle versammelt und halte eine Andacht für Pater Gerbillon. Dann sagte er noch: »Es ist besser, wenn Sie nicht mehr herkommen. Besuche sind gefährlich.«

»Ich muss Dan-Mali sehen«, sagte Charles ohne Umschweife.

»Dafür ist es jetzt ohnehin zu spät«, sagte der Pater, »wir schicken die Siamesen in ihre Heimat zurück. Wir werden die Aktivitäten von Pater Gerbillon nicht weiterführen.«

»Aber ist sie denn noch hier in Paris?«

»Gehen Sie jetzt.« Der Pater wollte die Tür schliessen, doch Charles setzte seinen Fuss dazwischen.

»Ich gehe erst, wenn Sie mir versprechen, ihr auszurichten, dass ich sie gesucht habe.«

»Nun gut«, sagte der Pater schliesslich, »ich werde es ihr ausrichten.«

Die nächsten Tage verstrichen, ohne dass Dan-Mali erschien. Charles hatte immer mehr Menschen hinzurichten, und er sah, dass seine Gehilfen abstumpften. Aber auch die zum Tode Verurteilten stumpften ab. Kaum einer wehrte sich auf der Fahrt zum Schafott gegen die Exekution. Zu lange hatten sie in der Angst gelebt, denunziert zu werden. Jetzt war es endlich vorbei. Der Tod wurde zur Erlösung.

Mit der Trauer ist es wie mit einem Muskel, dachte Charles. Man kann trauern, so viel wie man will oder muss, aber mit der Zeit erschlafft der Muskel. Gabriel beherrschte nicht mehr von morgens früh bis abends spät seine Gedanken, doch er träumte jede Nacht von ihm. Er hörte ihn Klavier spielen. Und er weinte im Schlaf. Wenn er aufwachte, waren seine Augen nass von den vielen Tränen, die er in seinen Träumen vergossen hatte.

»Gabriel war ein guter Junge. Ich hätte ihn nicht mitnehmen dürfen. Sein Reich war die Musik.« Charles sass mit Henri in der Küche. Sie tranken Wein.

»Du bist nicht verantwortlich für jeden Schritt, den jemand tut, du kannst nichts dafür, wenn er stolpert oder ausgleitet«, sagte Henri.

»Aber dein Bruder ist von meinem Schafott gestürzt. Und ich hatte ihn hinaufbeordert. Er wollte mir einen Gefallen tun und ist dabei gestorben. Habe ich ihm zu wenig Liebe geschenkt, dass er mir diesen Gefallen tun wollte?«

»Fouquier ist schuld, Vater, wieso wollte er die Exekutionen abends bei Fackelschein? Ich hoffe, ich werde ihn eines Tages höchstpersönlich auf das Brett binden.«

Einige Tage später, Charles hatte sich erneut entschlossen, das Jesuitenkloster aufzusuchen, sah er Dan-Mali die Strasse zu seinem Haus hinaufkommen. Er konnte nicht mehr an sich halten und begann zu rennen. Sie warf sich in seine Arme. »Lass mich nie mehr allein«, flüsterte sie.

Er hielt sie fest. »Ich war gerade unterwegs zum Kloster«, sagte er.

»Ich muss nach Siam zurück«, sagte sie bekümmert, »aber ich möchte bei dir bleiben.«

»Du kannst selbstverständlich bei mir bleiben.«

Eng umschlungen entfernten sie sich vom Stadtzentrum und setzten sich schliesslich auf eine niedrige Mauer, die ein grosses Grundstück umschloss. Auf der angrenzenden Weide grasten Pferde.

»Ich werde dir helfen können. Wir haben damals nicht nur Französisch gelernt«, sagte Dan-Mali nach einer Weile, »wir haben auch viel über den menschlichen Körper, über Pflanzen, über andere Länder und über Mathematik gelernt. Auch Pater Gerbillon hat mir viel beigebracht. Er war ein schlechter Mensch, aber er hat mich viel gelehrt.«

Gemeinsam kehrten sie ins Haus zurück und unterhielten sich lange in der Pharmacie.

»Ich werde dich nicht mehr alleinlassen«, sagte Charles. »Komm, wir essen etwas. Jetzt wird sich vieles ändern. Ich werde mein Amt voraussichtlich zum Monatsende an meinen Sohn Henri übergeben. Ich werde nicht mehr gebraucht. Ich bin frei.«

Dan-Mali erhob sich und küsste Charles schüchtern auf die Stirn. »Ich komme morgen wieder, aber heute Abend muss ich zurück. Die Patres haben es nicht gern, wenn ich die Zeiten nicht einhalte.«

»Versprich mir, dass du nicht nach Siam zurückkehrst. Ich warte auf dich.«

»Wir müssen nicht mehr länger warten«, sagte Dan-Mali und strich Charles über das hagere Gesicht. Dann knöpfte sie sein Hemd auf und küsste ihn. »Das Leid entsteht, wenn man zurückschaut. Aber es entsteht auch, wenn man nach vorne schaut«, flüsterte sie und streifte ihr Kleid ab. »Aber jetzt, Meister Sanson, erfahren wir kein Leid. In diesem Augenblick sind wir frei von Leid. Deshalb ist der Augenblick das Beste im Leben.«

Sie liebten sich bis in den späten Nachmittag, bis sie satt von der Liebe waren. Dann blieben sie noch lange auf dem Bett liegen und genossen ihr Zusammensein. Als es zu dunkeln begann, tranken sie einen Tee. Dan-Mali erzählte von den Lehren des Siddhartha Gautama, von Buddha.

»Ist Buddha dein Gott?«, fragte Charles.

»Nein«, entgegnete Dan-Mali, »Buddha ist kein Gott, und er ist auch nicht Überbringer einer göttlichen Botschaft. Buddha ist der Weg. Buddha ist eine Philosophie. Ihr habt doch auch Philosophen. Buddha lehrt die Überwindung des Leids. Das setzt eine Erkenntnis voraus, ein Aufwachen, ein Erkennen der vier Wahrheiten. Leiden prägt das menschliche Leben. Dieses Leiden wird durch Gier verursacht.«

Während Dan-Mali dem Henker die asiatische Philosophie näherbrachte, verfügte Robespierre die Aushebung aller unverheirateten Männer zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, ein Novum für Europa, das bisher nur Söldnerarmeen gekannt hatte. »Jetzt wollen wir den totalen Krieg«, liess er sich mit schneidender Stimme vernehmen, »gegen aussen und gegen innen.« Er träumte von einem Grossfrankreich, das sich bis zu seinen natürlichen Grenzen erstreckte: Alpen, Pyrenäen, Rhein und Meer. Die Verfassung wurde nach Gutdünken angepasst und raubte der Bevölkerung mit jeder Korrektur mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der König war durch einen blutrünstigen Diktator ersetzt worden. Robespierre träumte von einem gesäuberten Volk, in dem alles Minderwertige ausgemerzt war.

Im Oktober 1793 schickte das neugeschaffene Revolutionstribunal einundzwanzig Girondisten unter das Fallbeil. Es waren Männer der ersten Stunde, die sich mutig für die Ideale der Revolution eingesetzt hatten. Jetzt wurden sie alle guillotiniert. Anschliessend sollten die Hébertisten an die Reihe kommen, später die Dantonisten, bis nur noch Robespierres Partei an der Macht war. Allein für die Girondisten brauchten Charles und Henri vier Karren für die Fahrt zum Schafott. Es setzte ihnen schwer zu, dass sie ausgerechnet die Väter der Menschenrechte hinrichten mussten. Alle beschworen vor dem Tod die Freiheit, die Errungenschaften der ersten Revolutionsetappe. Es war erschütternd, wie gefasst sie die Stufen zum Schafott hochstiegen. Keiner bettelte um sein Leben. Sie kannten ihre Robespierres und Saint-Justs nur allzu gut. Pierre Vergniaud, ein kaum bekannter Girondist, aber bedeutend genug zum Sterben, rief Charles zu: »Jetzt frisst die Revolution ihre Kinder.«

Charles wünschte sich nur noch eins: dass das alles bald ein Ende nehme. Aber die Sansons brauchten immer mehr Karren. Bis zu fünfzig Todgeweihte pro Tag hatten sie aufs Schafott zu bringen. Henri betätigte immer schneller den Mechanismus des Fallbeils, und Barre und Firmin schnallten die Enthaupteten immer rascher los und kippten sie wie Tierkadaver, die einer Seuche erlegen waren, in den Sturzkarren. Bevor der Kopf fiel, brachten Gros und Desmorets bereits den nächsten Verurteilten die Stufen zum Schafott hoch. Dort wurde er sofort von Firmin und Barre in Empfang genommen, an den Armen gehalten und aufs Brett gebunden, das unverzüglich in die Waagerechte gekippt wurde und nach vorn schoss, während Henri fast gleichzeitig das gewaltige Fallbeil herunterfallen liess. Charles, Henri und ihre Gehilfen waren wie Räder in einem Getriebe aus Eichenbalken, Eisenklinge und menschlichen Armen, die Kraken gleich der Maschine immer aufs Neue Nahrung brachten. Einer nannte die Maschine Göttin der Vernunft. Wenn dem so war, dann waren sie die Diener dieser Gottheit und brachten ihr Menschenopfer dar. Doch Charles war nicht der Einzige, dem das zuwider war. Er beobachtete, wie Firmin immer wieder kreidebleich wurde, Barre torkelte jeweils richtiggehend über das Schafott, als würden ihn seine Beine nicht mehr länger tragen, und Henris lange, dürre Beine zitterten, als würde ein Hauch des Todes um seinen Körper wehen.