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Die Pariser Bevölkerung begann zu protestieren gegen das viele Blut, das in den Rinnsteinen floss und streunende Hunde anlockte. Man erwog einen Leinenzwang und alternierende Hinrichtungsstätten. Auch die Anwohner in der Nähe der Friedhöfe Madeleine, Errancis und Picpus protestierten wegen des Gestanks der verwesenden Leichen. Sie hatten auch Angst, dass das Grundwasser verseucht und sie von Krankheiten heimgesucht würden. Paris brauchte mehr Friedhöfe. Man liess in der alten Pfarrgemeinde der Madeleine den Gemüsegarten der Benediktinernonnen ausheben, eine Grube von zehn Fuss Tiefe, und ungelöschten Kalk herbeikarren. Hier wurden nun eine Zeitlang die Geköpften in einem Massengrab wie Abfälle aus dem Schlachthaus verscharrt.

Es flossen Unmengen Blut. Bis zu fünfzig Guillotinierte pro Tag, das waren dreihundert Liter Blut. Wenn das Spektakel vorbei war, stampften die Gaffer über den Platz, und das Blut blieb an ihren Schuhen kleben. So verteilten sie es über die ganze Stadt bis in ihre Wohnstuben. Und wenn die Sonne schien, wurde einem vom Gestank des warmen Blutes übel. Die Weidenkörbe hielten nicht mehr so lange wie früher. Ihre Böden waren vom vielen Blut so aufgeweicht, dass sie nach dem Trocknen brachen. Sieben Köpfe waren zu viel für einen Korb. Charles forderte mehr Mittel für zusätzliche Weidenkörbe und auch einen weiteren Gehilfen, um das Schafott nach sieben Exekutionen zu reinigen. Es sei den zu Exekutierenden nicht zuzumuten, das viele Blut zu sehen. Sie würden dabei schwach und ängstlich, und es sei wesentlich schwieriger, sie auf das Brett zu binden. Aber Fouquier meinte, es sei Teil der Strafe, dass man die Verurteilten auf das blutverschmierte Brett binde und sie in diesen Minuten auf die bluttriefenden Köpfe im Weidenkorb starrten.

Fouquier liess Charles nicht gehen. Er wollte den grossen Sanson auf dem Schafott sehen. Charles’ Demission hätte der Bevölkerung womöglich signalisiert, dass das Terrorregime an Rückhalt verlor.

Viele Hinrichtungen erlebte Charles wie in Trance. Er war zu beschäftigt mit den Routineabläufen, um über das nachzudenken, was er gerade tat. Das grosse Leid suchte ihn jeweils spätabends zu Hause auf, wenn er eigentlich zur Ruhe kommen wollte. Dann trank er Wein und versuchte schreibend seine Gedanken zu ordnen. Doch die Hand war vom Töten müde geworden. Sie blieb wie ein Stück Fleisch auf seinem Pult liegen, und das frische Blatt seines Tagebuches blieb weiss wie das Laken seines Bettes. Er hätte schreiben wollen, dass ihn nur noch Dan-Mali vor dem Wahnsinn retten könnte. Aber sie begegneten sich nicht mehr. Und die Pater im Jesuitenkloster öffneten ihm nicht einmal mehr die Tür. Sie hatten sich im Kloster verschanzt. Sie hatten Angst.

Es fiel kaum auf, dass Gorsas nicht mehr für die Zeitung schrieb. Charles dachte, er sei ins Ausland geflohen. Doch er traf ihn wieder, den kleingewachsenen Mann in hellbraunem Frack, teurer Piquéweste und senfgelber Hirschlederhose: auf den Stufen zum Schafott. Obwohl man ihm bereits die Hände gebunden hatte, nuckelte er noch an seiner Pfeife. »Das ist die erste Hinrichtung, über die ich nichts schreiben kann«, sinnierte Gorsas. Irritiert packte Charles seinen rechten Oberarm und führte ihn zum Klappbrett der Guillotine. »Einen Augenblick noch«, sagte Gorsas. Charles erwies ihm diese Gunst. »Kennen Sie mein Verbrechen?«, flüsterte er. Charles schwieg. Er hielt immer noch Gorsas’ Arm fest und versuchte, ihn zu beruhigen. »Unser Doktor Guillotin hat ein schmales Büchlein geschrieben«, fuhr Gorsas fort, »ein Hohelied auf die Pressefreiheit. Die Druckmaschinen wurden gestoppt, das Buch verboten. Darüber habe ich geschrieben. Was hat uns die Revolution gebracht, wenn wir nicht mehr über die Pressefreiheit schreiben dürfen?«

Charles nickte. Er mochte die zum Tode Verurteilten nicht daran hindern, noch zu sagen, was ihnen wichtig schien. Denn Charles wusste, dass man in der Stunde des Todes bereut. Man bereut Dinge, die man getan hat, und man bereut Dinge, die man unterlassen hat. Das war ein Vorgeschmack auf die Hölle. In diesem Augenblick jagten sich die Gedanken der Todgeweihten, es war wie das Chaos, das am Anfang aller Dinge stand, bevor die Menschen wurden, was sie wurden. Man war diesen Dingen schutzlos ausgeliefert. Man hatte keine Kontrolle mehr.

Gorsas umarmte plötzlich seinen Henker und urinierte, ohne es zu merken. »Adieu, Monsieur de Paris. Wir hätten Freunde werden können.« Schweigend nahm auch Charles den kleinen Mann in die Arme. Gorsas streckte sich. Er suchte Charles’ Ohr. »Wenn Sie mir auf dem Friedhof die Kleider ausziehen«, flüsterte er, »schauen Sie in meiner rechten Westentasche nach. Ich habe etwas für Sie.« Gorsas weinte, als man ihn kopfvoran auf das Brett legte und er die abgetrennten Köpfe unter sich sah. »Der Schmerz ist nur ganz kurz, oder?«, fragte er noch. Dann fiel sein Kopf in den Weidenkorb.

Es folgten mehrere Wäscherinnen, Hilfsknechte und sogar ein Stalljunge, allesamt bitterarme Menschen, die sich nie für Politik interessiert hatten. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, einem Royalisten gedient zu haben. Vielleicht war die Hinrichtung von Menschen, die ganz offensichtlich unschuldig waren, Bestandteil der Abschreckung, Bestandteil des Terrors. Zuletzt waren zwei Adlige an der Reihe, die versucht hatten, ihr Vermögen ins Ausland zu transferieren. Es ging sehr schnell. Die Gehilfen arbeiteten routiniert. Als der letzte Kopf in den blutgetränkten Weidenkorb geklatscht war, luden Barre und Firmin die kopflosen Leichen auf den Wagen. Henri warf die losen Köpfe hinterher. Jede Leiche erhielt ihren abgeschlagenen Kopf zwischen die Beine.

Schweigend fuhren Charles und seine Männer zum Friedhof. Es machte Charles etwas aus, dass er Gorsas hatte hinrichten müssen. Er dachte an ihr erstes Zusammentreffen anlässlich der Hinrichtung von Damiens. Damals hatte ihn der kleine Journalist genervt, aber am Ende hatte er ihn doch gemocht. Und jetzt vermisste er ihn.

Auf dem Friedhof entkleideten sie die Leichen und warfen sie in das Massengrab. Desmorets überschüttete sie anschliessend mit Kalk. Die Kleider warfen sie wie immer auf einen Haufen in den Wagen. Nur die Hosen wurden bereits auf dem Friedhof aussortiert, denn die meisten waren mit Fäkalien beschmutzt. Wenn der Kopf abgetrennt wurde, verlor jeder Muskel die Kontrolle. Nur einzelne Nerven zuckten noch wild und täuschten ein bisschen Leben vor. Dann war auch das vorbei.

Zu Hause trugen sie die Kleider in die Scheune. »Geht in die Küche, und macht euch was zu essen«, sagte Charles, »das hier erledigen wir morgen.« Henri und die Gehilfen waren nicht unglücklich darüber. Irgendwie hatten sie langsam genug von all diesem Blut.

Charles blieb allein in der Scheune zurück und griff nach der Piquéweste. Er fand tatsächlich etwas in der rechten Innentasche. Es war ein Dokument, mehrere Seiten lang. Er steckte es in sein Wams und zog sich in seine Pharmacie zurück. Dort nahm er es wieder hervor und dachte lange nach. Schliesslich entschied er sich, es nicht zu lesen. Wenn dieses Dokument Gorsas das Leben gekostet hatte, wollte er es nicht lesen. Er wollte nicht wissen, was darin stand. Was hatte er damit zu schaffen? Er war bloss ein Henker, der Urteile vollstreckte. Er wollte Ruhe haben, seinen Frieden finden. Aber so einfach war das nicht. Die Toten suchten ihn in der Nacht auf. Er hörte sie sprechen, ihre letzten Worte, er sah ihre hilflosen Augen, die ihn anflehten. Und dann hörte er das Heruntersausen des Fallbeils, und er war hellwach.