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Am 3. November starb die mutige Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, fünfundvierzigjährig, unter dem Fallbeil. »Wir dürfen nicht öffentlich reden«, sagte sie mit gefasster Stimme zu Charles, als sie das Schafott erreichte, »wir dürfen nur öffentlich sterben. Dabei haben wir bloss die gleichen Rechte wie die Männer gewollt.«

Auch Gräfin du Barry wollte Charles noch etwas sagen. Sie wollte am 8. Dezember nicht so leise aus dem Leben treten. Die Hinrichtung war mehrmals verschoben worden, weil die Gassen und Brücken in Paris spiegelglatt waren. Es war wieder Winter. Und die kalte Jahreszeit rief die Erinnerung an Gabriel wach. Die Gräfin wartete in der Conciergerie auf den Tod. Sie war nicht wie die anderen. Sie schwieg nicht. Sie brüllte aus voller Kehle, stürzte sich auf jeden Gehilfen, und als Barre ihr die Haare schneiden wollte, rammte sie dem armen Kerl das Knie in den Unterleib und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Erst als Charles die Conciergerie betrat, verstummte sie. »Charles«, stiess sie ausser Atem hervor, »rette mich, ich habe ein kleines Schloss in der Nähe von Versailles, Juwelen von Louis XV, ich war seine Mätresse.«

»Madame, ich bin hier, um Sie für Ihre letzte Reise abzuholen«, sagte Charles und zeigte seine Hände. Er hatte ein Seil in der linken Hand.

»Madame?«, schrie sie. »Aber Charles, ich bin es, Marie-Jeanne Bécu.«

Charles stutzte.

»Charles!«, flehte sie ihn an.

»Jetzt erinnere ich mich, Madame, es ist lange her. Sie erzählten mir damals, dass Sie bald den Namen du Barry annehmen würden.«

Die Gräfin strahlte übers ganze Gesicht und fiel vor ihm auf die Knie. »Rette mich, Charles, ich bin unschuldig.« Es war nichts übrig geblieben von ihrer Jugend. Sie bewegte sich nach wie vor, als sei sie eine Schönheit, aber die Jugend war aus ihrem Gesicht gewichen. Das fettige Essen in Versailles hatte ihr Gesicht in einen konturenlosen Teig verwandelt, in dem Nase und Mund noch kindlicher erschienen. Die schon damals üppigen Brüste waren noch grösser und massiger geworden und dominierten die ganze Erscheinung. Es war, als wäre dieser Körper nur erschaffen worden, um diesen gigantischen Busen zu tragen.

Firmin betrat mit einem roten Hemd das Gefängnis. Barre zerrte die Gräfin auf einen Stuhl und kreuzte ihre Arme hinter der Stuhllehne. Blitzschnell band Charles die Handgelenke zusammen. Sie waren ein eingespieltes Team. Jetzt stand Firmin vor ihnen, verloren mit seinem roten Hemd. Charles band die Gräfin erneut los, und nun versuchten sie zu dritt, der hysterischen Frau das rote Hemd überzuziehen. Schliesslich gab ihr Barre eine schallende Ohrfeige. Sie verstummte augenblicklich und zog das rote Hemd an.

Die Fahrt zum Schafott dauerte eine Ewigkeit. Mag sein, dass es Charles und seinen Gehilfen nur so vorkam. Gräfin du Barry schrie, tobte und weinte in einem fort. Sie sprang hoch, hielt sich an der Brüstung des Karrens fest und schrie: »Volk von Paris, rette mich, rette mich, ich bin unschuldig!« Sie rüttelte wie verrückt an der Absperrung und schrie so laut, dass ihre Worte noch in den Seitenstrassen zu hören waren. Ihre Stimme war lauter als das Getrampel der Pferde und das Knirschen der Räder. »Rettet mich, Erbarmen, Gnade, rettet mich!« Charles liess sie gewähren. Es wäre eh sinnlos gewesen, sie daran zu hindern. Er wollte vielleicht auch verhindern, dass sie sich auf ihn stürzte und ihn in aller Öffentlichkeit biss und sein Gesicht zerkratzte, wie sie es bei Barre getan hatte. Jetzt brüllte sie aus voller Kehle, so dass sich ihre Stimme überschlug. Sie war schon heiser. Als sie auf die Place de la Révolution einbogen, wäre sie beinahe gestürzt, doch sie hielt sich an der Querlatte des Karrens fest, umschlang das Stück Holz mit beiden Armen und weinte so herzzerreissend, dass das Gejohle der Menge allmählich verstummte. Das war neu, dass jemand derart um sein Leben schrie. Das wollte man nicht hören. Das wollte man nicht sehen. Viele Menschen verliessen verärgert die Hinrichtungsstätte.

Die Gräfin wollte den Karren nicht verlassen. Firmin und Barre rissen ihre Hände von der Brüstung los und zerrten sie aus dem Wagen. Sie schlug derart kräftig um sich, dass sie ständig den einen oder anderen Arm befreite und Hoffnung schöpfte. Als sie sich beinahe losgerissen hatte, warf Firmin sie zu Boden. Barre wollte ihre Beine packen, doch sie schlug wie ein Pferd aus und traf ihn mehrmals im Gesicht, wobei er zwei Zähne verlor. Nun eilten Henri und Gros den beiden zu Hilfe und trugen die Gräfin zur Treppe des Schafotts. Dort stand Charles mit stoischer Miene. »Gnade, Monsieur de Paris, noch einen ganz kleinen Augenblick«, flehte sie. Die Gehilfen schauten kurz zu Charles. Er schüttelte unbeirrt und ruhig den Kopf, ohne sie anzusehen.

Jetzt hörte man Protestrufe aus dem Publikum. Den Leuten missfiel dieses Spektakel. »Lasst sie doch in Ruhe«, schrien einige. Das war neu. Es war kaum zu fassen, aber das Volk hatte endlich die Nase gestrichen voll von all diesen Hinrichtungen. Die Pariser empfanden so etwas wie Mitgefühl. Die wenigsten hatten wohl Bücher von Voltaire, Montesquieu und Rousseau gelesen, aber die Zeit war reif dafür. Das Individuum hatte an Bedeutung gewonnen. Das Schicksal anderer war dem Volk weniger gleichgültig. Wenn das Volk von Anfang an so reagiert hätte, wäre es unmöglich gewesen, so viele Menschen hinzurichten, dachte Charles. Ist man frei von Schuld, wenn man in der Vergangenheit Gräueltaten duldete, die dem Gesetz entsprachen?

Am 5. April 1794 war Danton an der Reihe. »Zeig meinen Kopf dem Volk. Er ist es wert«, sagte er zu Charles, bevor er die Treppe hochstieg. Dann hatte er doch noch Tränen in den Augen, weil er an seine Frau und seine Kinder dachte. Charles folgte ihm nicht. Er blieb unten stehen und gab Henri das Zeichen, die Sperre zu lösen. Das schwere Fallbeil sauste herunter. Und der Kopf gehörte für eine halbe Stunde der verrückten Marie, die bald François Tussaud heiraten sollte und fortan für alle nur noch Madame Tussaud hiess.

Antoine Fouquier übergab Charles immer längere Listen von Verurteilten. Zum Teil standen die Namen bereits auf den Todeslisten, obwohl noch kein Urteil verkündet worden war. »In Lyon wurde der Henker Jean Ripet der Ältere im Alter von achtundfünfzig Jahren hingerichtet«, sagte Fouquier, während er Charles die aktuelle Liste übergab. »Ich hoffe, du hast genügend Karren und Pferde.« Charles verstand die Botschaft sofort. Ripet war Royalist gewesen.

»Der König ist längst tot«, sagte Charles unbeeindruckt, »kann ich mein Amt demnächst an meinen Sohn übergeben?«

»Noch nicht, Charles«, flüsterte Antoine, »es ist noch nicht vorbei. Aber bald.«

Charles war verzweifelt, seit Monaten hatte er von Dan-Mali nichts gehört. Seine Geduld war zu Ende. Er eilte zum Jesuitenkloster. Er würde Dan-Mali einfach mitnehmen. Für immer. Er überlegte auch, ob er mit ihr Paris verlassen sollte. Henri war alt genug. Als er endlich das Kloster erreichte, stellte er erschreckt fest, dass nicht mehr viel davon übrig geblieben war. Die Sansculotten hatten es abgefackelt. Charles stiess einen Schrei des Entsetzens aus und rannte zur verkohlten Pforte hoch. Er sprang über die heruntergestürzten Balken, die immer noch vor sich hinräucherten. »Dan-Mali!«, schrie er und eilte in den Hof. Es war niemand zu sehen. Er stand nun mitten im Kräutergarten und drehte sich im Kreis. »Dan-Mali!«, schrie er immerzu.

»Was wollen Sie noch?«, rief jemand. Ein Pater kam hinter einer Säule hervor. »Sie haben Dan-Mali verhaftet.«

»Warum?«, schrie Charles wütend.

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht mehr vorbeikommen. Sie bringen nur Unglück. Wir wollten nie ins Blickfeld der Justiz geraten. Wer weiss, was sie sich als Nächstes ausdenken.«

Die Nachricht traf Charles wie ein Dolchstoss mitten ins Herz. Dan-Mali war wegen angeblicher royalistischer Umtriebe verhaftet worden.