Der Pater kam auf Charles zu und zischte: »Schauen Sie doch, was Sie hier angerichtet haben.« Er packte Charles, doch dieser schlug ihm die Hände weg und eilte auf die Strasse. Er wollte sofort Fouquier zur Rede stellen.
Dieser liess ihn warten. Leute kamen und gingen. Mehrfach wies Charles den vor der Tür stehenden Diener in blauer Livree an, seinen Besuch zu melden. Nach zwei Stunden öffnete sich schliesslich die Tür für ihn.
»Wo brennt es denn, Bürger Sanson?«, fragte Fouquier, ohne von seinen Akten aufzublicken. »Wir haben uns doch erst gesehen.«
»Im Jesuitenkloster lebte eine Frau aus Siam. Sie wurde von Ihrer Behörde verhaftet. Warum?«
»Woher das Interesse, Bürger Sanson?« Fouquier richtete sich auf und lehnte sich müde in seinen Sessel zurück.
»Sie ist meine Patientin«, sagte Charles, »ich bin sicher, da liegt ein Missverständnis vor. Sie hat sich nie für Politik interessiert.«
»Aber die Politik interessiert sich nun für sie. Sie ist hergekommen, um unsere Sprache zu lernen. Aber was tut sie? Sie hat bis vor kurzem die Hemden von Pater Gerbillon gebügelt. Die Hemden eines Royalisten.« Fouquier lächelte und fuhr sich lange mit der Zunge über die Schneidezähne, als versuchte er, Essensreste herauszulösen. »Pater Gerbillon«, fuhr er fort, »war ein guter Hinweis. Wir haben die Mitarbeit des Bürgers Sanson mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Aber du weisst doch selbst, es genügt nicht, eine kranke Stelle am Körper zu entfernen, man muss grosszügig den Herd umkreisen und alles in der Umgebung herausschneiden. Du hast doch einige Semester Medizin studiert, oder?« Fouquier warf den Kopf theatralisch zurück. »Ich habe noch zu tun, Bürger Sanson.«
»Ich will sie sprechen.«
»Bürger Sanson, wir können auf jeden verzichten. Auch auf dich. Nimm den Mund nicht zu voll. Und halte Abstand zu Leuten, die an royalistischen Umtrieben beteiligt sind. Wir merzen sie aus. Alle. Auch jene, die sie unterstützen. Egal, ob sie Wäsche bügeln oder Schuhe herstellen.«
»Ich will sie sprechen«, beharrte Charles.
Fouquier liess sich Zeit mit der Antwort. Er genoss es sichtlich, Charles leiden zu sehen. »Nun gut«, sagte er nach einer Weile, »du hast uns immerhin Pater Gerbillon ausgeliefert. So sei es.« Er betätigte die Glocke auf seinem Schreibtisch. Der Diener betrat das Kabinett. »Stellen Sie für Bürger Sanson eine Besuchserlaubnis aus. Für eine Dame siamesischer Herkunft.«
»Welches Gefängnis?«, fragte der Diener.
»Ich müsste nachschauen, aber mir fehlt die Zeit.« Fouquier grinste.
Charles wusste genau, dass er log.
Zuerst suchte Charles das Gefängnis L’Abbaye auf, dann die Madelonnettes, wo der Direktor der Oper mit dreizehn Schauspielern auf den Tod wartete. Im Gefängnis Port-Libre sassen nur Frauen. Sie mokierten sich über das unabwendbare Schicksal, skandierten »Es lebe der König« und »Gebt uns einen Mann«. Auch hier keine Dan-Mali. In der Rue des Droits de l’Homme waren die Gefängnisse Grande-Force und Petite-Force, die der direkten Kontrolle Fouquiers unterstanden. Zufälligerweise begegnete ihm Charles im Gefängnishof. Fouquier murmelte im Vorbeigehen beiläufig: »Versuch es im Sainte-Pélagie in der Rue de la Clef.«
Das Sainte-Pélagie bot Platz für rund fünfzig Gefangene. Es waren dreihundertfünfzig inhaftiert. Sie vegetierten auf Strohsäcken und suchten die Nähe zum Herzog von Biron, einem inhaftierten General der republikanischen Armee. Dieser hatte genügend Geld bei sich, um den Direktor des Gefängnisses für Begünstigungen zu entlohnen. Es gab genaue Tarife für jede Dienstleistung: Getränke, Delikatessen, Bücher, Besuche, alles war gegen Bezahlung möglich. Viele der Insassen waren Prostituierte, die den adligen Royalisten schöne Stunden bereitet hatten, oder Frauen, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie die Freundin oder Mätresse eines Verurteilten gewesen waren. Wie zum Beispiel eine Kreolin, die eine Liebesbeziehung zum englischen Bankier Walter Boyd unterhalten hatte und den Grund ihrer Verhaftung nicht verstand. Während sie unter die Guillotine kam, feierte er in London seine erfolgreiche Flucht. Bei einigen bestand das einzige Verbrechen darin, reich zu sein.
Charles wurde in die unterirdischen Hallen geführt, die in Massenzellen umgebaut worden waren. Es war feucht, stank nach Schimmel und menschlichen Exkrementen. Die Mauern waren aus grossen, schweren Steinquadern. An der gewölbten Decke hingen Hunderte von Fledermäusen wie kleine schwarze Regenmäntel. Einige Frauen kamen sofort zum Gitter und hielten sich an den Eisenstäben fest. »Fick mich«, schrie ihm eine ins Gesicht, »wenn ich schwanger bin, bin ich frei.«
Charles lief das Gitter ab, hinter dem sich die Frauen drängten. »Ich suche eine Frau mit dunkler Haut. Aus Siam.«
»Es lebe der König«, schrien einige.
»Es war eine da«, sagte der Wärter, »aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie schon unter das Fallbeil gekommen ist. Doch Sie, Monsieur, Sie müssten es wissen, es ist Ihr Schafott.« Der Wärter grinste und zeigte die letzten Zahnstummel, die er noch im Mund hatte. Sein Gesicht war seltsam entstellt, als hätte ein Rammbock ihm die Nase platt gedrückt.
»Dan-Mali!«, schrie Charles verzweifelt und horchte.
»Ich bin Dan-Mali«, rief eine Dirne und rüttelte an den Stäben.
»Hör nicht auf die Schlampe«, sagte eine andere, »ich bin Dan-Mali.«
Der Wärter winkte ab und wies zur Tür. »Tut mir leid, Monsieur de Paris.«
»Sie muss Ihnen doch aufgefallen sein, Bürger, sie war dunkelhäutig.« Charles war vor ihm stehen geblieben. Der Wärter schüttelte erneut den Kopf und wies wieder zur Tür. Charles machte ein paar zögerliche Schritte.
»Kun kwaun«, hörte er plötzlich jemanden rufen.
Fieberhaft starrte er auf das Gitter, doch unter all den Frauen konnte er nirgends Dan-Mali erkennen.
Dann hörte er nochmals die Stimme, und jetzt sah er den dünnen Arm, der durch das Gitter ins Leere griff und winkte. Es war Dan-Mali. Sie kniete hinter dem Gitter. »Ich werde auf dich warten«, rief sie.
Charles kniete vor den Gitterstäben nieder und ergriff ihre beiden Hände. Er presste sie an sein Gesicht und küsste sie. »Ich hol dich raus«, sagte er.
»Nein«, sagte Dan-Mali, »das wird nicht möglich sein. Wir werden alle sterben. Aber drüben, in der anderen Welt, werde ich auf dich warten. Hab keine Angst.«
Sie presste ihren Kopf an die Gitterstäbe, den Mund im Zwischenraum, und schloss die Augen. Charles küsste sie, ohne ihre Hände loszulassen.
»Kann ich über Nacht bleiben?«, fragte Charles den Wärter. Dieser schüttelte den Kopf.
»Sie müssen nach dem Preis fragen, nicht nach einer Erlaubnis«, sagte eine sonore Stimme. Ein Mann in Uniform bahnte sich den Weg zu den Gittern. »Herzog von Biron, General der republikanischen Armee«, stellte sich der Gefangene stolz vor. Er hatte graues Haar und lange Koteletten. Sein Gesicht war etwas eingefallen und vom Wetter gegerbt. Er reichte Charles einige Münzen. »Das sollte reichen, Monsieur de Paris. Nein, nein, kein Dankeschön, das Totenhemd hat keine Taschen, Erben habe ich auch keine, wie soll ich also mein Geld noch ausgeben?«
Charles gab dem Wärter das Geld. Er steckte es diskret ein, zeigte ansonsten aber keine Reaktion.
»Und für mich noch zwei Flaschen Bordeaux«, rief der General dem Wärter zu, »und für Monsieur einen Strohballen. Aber einen trockenen.«
In den frühen Morgenstunden waren Dan-Mali und Charles eingeschlafen. Sie schliefen beidseits des Gitters. Hand in Hand.
Eigentlich hatte Charles um Dan-Malis Leben betteln wollen. Doch als er am Vormittag in Fouquiers Büro stand und die Liste der Verurteilten las, stockte ihm der Atem. Ohne zu fragen, setzte er sich auf den Stuhl gegenüber Fouquier.
»Habe ich dir angeboten, dich zu setzen?«