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»Lassen Sie die Frau frei.«

»Ich weiss, Bürger Sanson, die Kleine aus Siam. Jetzt hast du sie ja doch noch gefunden.« Fouquier blätterte in einer Akte. »Ist noch was?«

»Ich sagte, Sie sollen sie freilassen. Tun Sie mir den Gefallen, ich werde mich bei der nächsten Gelegenheit erkenntlich zeigen.«

»Bürger Sanson«, begann Fouquier, »wir haben erstens ein gültiges Gerichtsurteil. Das kann niemand umstossen. Zweitens kannst du dem Chefankläger wohl kaum einen Gefallen erweisen, der es wert wäre, seine Pflichten zu vernachlässigen. Oder willst du den Chefankläger der Revolution bestechen? Die Siamesin wird heute in den Sack spucken, und morgen werden andere folgen. Und wenn du insistierst, Monsieur de Paris, lasse ich dich in Ketten legen. Wegen Unterstützung einer Konterrevolutionärin. Haben wir uns jetzt verstanden?«

Charles schwieg. Er begriff, dass Dan-Mali keine Chance mehr hatte, den heutigen Tag zu überleben. Er beugte sich über Fouquiers Schreibtisch. »Ich warne dich, Antoine, wenn Dan-Mali stirbt, wirst du auch sterben.«

»Oh«, erwiderte Fouquier spöttisch, »so habe ich dich noch nie gesehen, Charles. Du schaust richtig grimmig aus. Ich hatte mich ja schon in Rouen gefragt, was man dir eigentlich antun muss, damit du dich aufbäumst. Das hättest du früher nie gewagt. Siehst du, die Revolution hat dich befreit. Sei dankbar!«

Dan-Mali wurde zusammen mit drei Prostituierten zum Schafott gefahren. Charles sass neben ihr. Das war nicht ungewöhnlich, da er dies immer wieder tat, um Verurteilte zu beruhigen. Doch diesmal berührte seine Hand während der gesamten Fahrt die schmale Hand der kleinen dunkelhäutigen Frau. Seine Gehilfen senkten den Kopf. Charles war es einerlei. Er liebte diese Frau über alles. Sie hatte sich in seinem Herzen eingenistet, und wenn er sie verlieren sollte, würde er daran zerbrechen.

Als der Karren auf die Place de Grève einbog, gab es Applaus und Rufe. Doch plötzlich verstummten alle. Dan-Mali hatte sich erhoben, Charles ebenfalls. Er stand neben ihr und überragte sie um zwei Köpfe. Neben ihm wirkte Dan-Mali wie ein Kind.

»Keine Kinder!«, schrie plötzlich jemand in den hinteren Reihen. »Keine Kinder!«, wiederholten andere, und plötzlich verschmolzen alle Rufe zu einer einzigen Stimme: »Keine Kinder, es ist genug! Aufhören!« In den umliegenden Häusern wurden die Fensterläden geschlossen, als käme die Pest vorbei. Charles wünschte, diese Fahrt möge nie enden. Er hoffte innigst, sie würden ohne Ziel in diesem Fuhrwagen fahren, Hand in Hand, bis ans Ende der Welt. Doch dann sah er die beiden Pfeiler, die senkrecht in den Himmel ragten. Er suchte die Menge ab. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte er an eine Rettung, eine Fügung des Schicksals, ein Wunder. Als die Frauen vor dem Schafott ausstiegen und er die Vertreter der Justiz sah, wusste er jedoch, dass niemand das Verbrechen aufhalten würde.

»Sei stark«, sagte Dan-Mali, als sie den Fuss auf die unterste Treppenstufe setzte. Sie blieb stehen und schaute ihn an. »Wir sehen uns wieder, kun kwaun, Buddha ist uns wohlgesinnt.«

Charles wollte Dan-Mali auf der Treppe folgen, doch sie stiess ihn ganz sanft zurück und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Es ist nur ein kurzer Abschied. Ich habe keine Angst, Charles. Wir haben ein gutes Karma.« Henri hielt seinen Vater zurück. Er griff ihm unter den Arm und führte ihn unter das Schafott. »Geh nach Hause, Vater, das ist nicht dein Tag.«

Charles blieb stehen und stützte sich mit beiden Händen an einem Balken ab. Er hörte das Zuschnappen der Lünette, das Heruntersausen des Fallbeils, das Aufschlagen des Kopfes. Blut. Überall Blut. Wie versteinert stand er unter dem Schafott, während das Blut seiner Geliebten zwischen den schlecht befestigten Holzbohlen auf seine Stirn herunterfloss und sich mit dem Blut jener vermischte, die zuvor enthauptet worden waren. Ein Hund rannte herbei und begann Blut zu lecken. Charles versetzte ihm einen wuchtigen Tritt. Das Tier jaulte kurz auf, lief geduckt weg und kam wenig später zurück. Noch nie hatte sich Charles vom Menschengeschlecht so weit entfernt gefühlt: ausgestossen, verachtet, gedemütigt, besudelt vom Blut des Verbrechens und ohne Hoffnung. Er konnte der Hölle nicht entfliehen. Dan-Malis Blut klebte an seinen Schuhen und würde ihn nun auf Schritt und Tritt verfolgen. Erneut tropfte Blut auf seine Stirn herunter. Es war ihm, als würde ihn der Teufel höchstpersönlich taufen. Charles wollte das Blut mit der Hand wegwischen, doch er verschmierte es bloss in seinem Gesicht. Er begann schwer zu atmen. Er stiess sich vom Stützbalken ab und torkelte unter dem Schafott hervor, direkt in die Menge, die sich sogleich teilte, als sie den blutüberströmten Henker sah. Als sich Charles endlich aus der Masse der Menschen auf dem Platz gelöste hatte und die ersten Häuser erreichte, stützte er sich an der ersten Hauswand ab. Dann kämpfte er sich von Haus zu Haus, legte Pausen ein, setzte sich manchmal auf eine Eingangstreppe und raffte sich wieder auf. Es war ihm, als schritte er über den Rücken eines braunen Wals, der nicht ruhig verharren wollte und schaukelnd die Wellen brach, bis die Gischt Charles ins Gesicht schlug. Es hatte zu regnen begonnen. Seine Augen konnten keinen Punkt mehr fixieren. Sie schweiften auseinander und zeigten ihm Doppelbilder, die den Schwindel verstärkten und ihn nachhaltig irritierten. Die Häuser schienen ihm feindlich gesinnt. Sie begannen sich zu wölben, als würden sie allesamt schwanger. Er beschleunigte seinen Schritt, um zu verhindern, dass er hinfiel. Und strauchelte doch.

Im Morgengrauen sass Charles am Ufer der Seine. Das Blut war getrocknet. Ein Kahn brachte Waren in die Stadt. Am gegenüberliegenden Ufer erwachte Paris. Händler zogen Handkarren oder trieben ihre abgehalfterten Ackergäule mit frischer Ware auf die Marktplätze. Charles nahm einen Stein in die Hand und drückte ihn fest. Er hatte den Eindruck, als würde der Stein in seiner Hand weich und nachgiebig wie ein Schwamm. Doch der Stein veränderte seine Form nicht. Charles’ Kiefer verspannte sich, die Zähne knirschten. Er spürte die eiserne Klammer, die wie die Lünette der Guillotine nach seinem Nacken schnappte. Ich erstarre, dachte Charles. Ich werde zur Strafe jahrhundertelang hier als Arm der Guillotine verharren, und nur mein Gehirn wird noch arbeiten, damit es mich quälen kann.

»Monsieur de Paris!«

»Vater!«

Erschreckt warf sich Charles der Länge nach hin. Jetzt sah er sie kommen. Sie rannten über die Wiese. Sie rannten auf ihn zu. Seine Gehilfen Gros, Barre, Firmin, Desmorets und seine Söhne Henri und Gabriel. Etwas stimmte nicht. Wieso konnte Gabriel rennen? Charles sprang hoch und eilte das Seineufer entlang in Richtung des abgefackelten Zolltors vierundvierzig. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hatte Gabriel gesehen, also konnte dieser nicht tödlich verunfallt sein. Also hatte er dessen Tod nur geträumt. Aber wieso zum Teufel rannten sie auf ihn zu? Und wieso waren sie zu sechst? Zum Reden genügte einer. Doch sie waren zu sechst. Weil sie ihn festhalten wollten. Aber warum? Dann verstand Charles. Sie wollten ihn aufs Schafott bringen. Aber wo blieb das schriftliche Urteil? »Wo?«, schrie Charles.

»Es ist nur ein böser Traum, Vater«, sagte Henri.

Charles schlug die Decke zurück und setzte sich benommen auf die Bettkante. »Gabriel ist tot«, sagte er, eher fragend, und schaute Henri flehend an.

»Ja«, sagte Henri, »Gabriel ist vom Schafott gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«

Charles nickte.

»Fouquier hat nach dir gesucht«, sagte Henri, »du musst aufstehen.«

»Schon wieder«, seufzte Charles, »hört das denn nie mehr auf? Mit jedem Urteil schneiden sie mir ein weiteres Stück aus meinem Gehirn. Sie stehlen die guten Erinnerungen, und was bleibt, sind rollende Köpfe, die polternd über die Holzbohlen hüpfen und mich stumm anklagen. Und wenn ich etwas anfasse, wird es rot, blutrot. Wie sind meine Hände?«

»Deine Hände sind in Ordnung. Leg dich wieder hin, Vater, ich schaff das schon zusammen mit unseren Gehilfen.«