Charles liess sich ins Bett zurückfallen. Henri zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch.
»Weisst du, wie eine leere Scheune aussieht?« murmelte Charles.
Henri nickte.
»Wenn sie dir alles wegnehmen, bist du leer wie eine Scheune. Das Pferdegeschirr, die Fuhrwerke, die Pferde, alles weg. Sie lassen dir nur die Feuerzangen, damit du dich weiter quälen kannst.«
Henri schwieg betreten.
»Ich werde ausreiten«, sagte Charles, »ans Ufer der Seine, nein, nein, dort war ich schon.«
»Das war in deinem Traum, Vater.«
»Geh jetzt, geh zur Guillotine. Sie wartet auf uns.«
»Vater, es ist nur ein Holzgerüst mit einer scharfen Klinge.«
»Nein, nein«, wehrte Charles ab, »sie haben mich erschaffen, sie haben mich nur für die Guillotine erschaffen. Und das viele Blut, das die Guillotine vergiesst, erweckt sie zum Leben. Wartet nur, bald steht sie vor unserer Haustür.«
»Dan-Mali«, sagte Charles, als er spätabends mit Henri ein Glas Wein trank, »ich habe sie geliebt, wie ich noch nie jemanden zuvor geliebt habe. Ich hätte nicht geglaubt, dass ein Mensch solche Gefühle haben kann, Gefühle, die stärker sind als Wind, Wasser und Gewehrkugeln.«
Henri kratzte sich verlegen am Ohr.
»Sie war einmalig«, sagte Charles leise, »ihr habe ich mein Herz geschenkt. Man kann sein Herz nur einmal verschenken, man kann nur einmal lieben, dann ist die Liebe vergeben. Was du später gibst, ist irgendetwas, aber man nennt es nicht Liebe.«
»Es muss nicht Liebe sein«, sagte Henri, »man kann auch ohne leben.«
»Aber nicht wenn man das Paradies gesehen hat.« Charles nahm ein Amulett aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. »Das ist die geborstene Glocke der Sansons, eine Glocke ohne Ton. Es war ein Geschenk für einen unserer Vorfahren. Sie wurde in der Neuen Welt in Silber gegossen. Sie gehört jetzt dir. Ich bin viele Tode gestorben, Henri. Der Tod kann nicht schlimmer sein als das Leid, das ich auf Erden erfahren habe. Ich sterbe ohne Angst.«
»Aber Vater«, sagte Henri entsetzt, »es ist noch nicht Zeit zum Sterben.«
»Beende die Dynastie der Henker«, sagte Charles, »erlöse unser Geschlecht. Deine Nachkommen sollen irgendetwas werden, Bäcker, Schreiner, Buchdrucker, irgendetwas, aber nicht Henker.«
»Fühlst du dich nicht gut, Vater?«
»Das Leben weicht aus meinem Körper«, flüsterte Charles, »es will nicht mehr. Irgendeinmal ist Schluss, Henri.«
Charles war vor Erschöpfung eingeschlafen. Doch nach wenigen Stunden kamen die Dämonen und peinigten ihn. Er träumte immerzu, dass Dan-Mali nicht tot war, dass sie irgendwo war und lebte. Aber sie lebte nur in seinen Träumen. »Sie ist tot«, riefen ihm die Menschen in seinen Träumen zu, aber er achtete nicht auf dieses Geschwätz und schleppte Dan-Malis Leichnam hinter sich her, auf der Suche nach jemandem, der ihm bestätigte, dass sie nicht tot war. Aber in seinen Träumen mochte das niemand bestätigen. Und wenn er aufwachte, wusste er, dass Dan-Mali tot war. Er trat in den Hof hinaus und starrte in den Nachthimmel. Er fühlte sich vollkommen einsam.
Er wartete darauf, dass die Müdigkeit zurückkam. Manchmal trank er Wein. Dann kehrte er in die Pharmacie zurück und legte sich wieder ins Bett. Er fand keinen tiefen Schlaf. Er döste einfach vor sich hin. Plötzlich schreckte er hoch und hörte die Stimme wieder, die ihn aus seinem Traum gerissen hatte. »Kun kwaun.«
Charles blieb liegen. »Bist du es, Dan-Mali?«
»Kun kwaun.«
»Bist du drüben?«, fragte Charles. Er rührte sich nicht. Er spürte einen feinen Luftzug und atmete den Duft ihrer Haut. »Bist du bei mir?«
»Kun kwaun«, wiederholte sie noch zärtlicher als zuvor.
Charles fühlte, wie Tränen über seine Wangen liefen. »Bist du es wirklich? Dan-Mali, ich dachte, die Toten kehren nicht zurück. Aber einige schon, nicht wahr?«
Dan-Mali antwortete nicht.
»Es ist nur ein Traum, nicht wahr?«
Dan-Mali schwieg.
Charles sah das Licht, das unter dem Türspalt in die Pharmacie drang. Obwohl es dunkel war, sah er auch das Blut. Es floss schnell, wie nach einem Dammbruch. Jetzt wurden Türen und Fenster eingedrückt, und überall drangen riesige Blutmengen herein. Manchmal war ein Kopf darunter. Ausgemergelte Köpfe mit Haut wie Pergamentpapier und Augen wie verkohlte Aprikosenkerne. Die Flut riss Charles mit, nach draussen. Am Ende der Strasse sah er die Guillotine auf sich zuschwimmen. Das hohe Blutgerüst wankte, aber es kippte nicht. Es wollte zu ihm. Die Guillotine war unterwegs. Zu ihm.
»Nein«, schrie Charles, »ich habe kein rotes Hemd, ihr könnt mich nicht mitnehmen. Das ist Vorschrift. Ohne rotes Hemd geht keiner aufs Schafott.«
Ein Zwerg mit schwarzem Dreispitz zupfte Charles am Ärmel. »Monsieur de Paris! Der Nationalkonvent hat verfügt, dass Schuhmacher nur noch für die Verteidiger der Nation arbeiten dürfen, und wer dagegen verstösst, dem werden alle Schuhe beschlagnahmt. Deshalb waten immer mehr Menschen barfuss im Blut. Wir kriegen die Blutströme nicht mehr unter Kontrolle. Die Erde mag das viele Blut nicht mehr aufsaugen. Das Blut steht wie ein Bergsee. Es klebt an den Barfüssigen, es klebt an den Schuhträgern, es klebt an den Rädern der Karren, an den Hufen der Pferde. Es regnet nicht mehr. Die Sonne scheint. Es stinkt. Nach Fäulnis. Gott mag es nicht, dass wir so viele Schuhmacher guillotinieren. Morgen haben wir keine Schuhmacher mehr. Ich sage Ihnen, uns werden die Schuhmacher ausgehen. Dann laufen wir alle barfuss im Blut herum.«
»Aufhören!«, schrie Charles und begann nach dem Zwerg zu treten. Doch er trat ins Leere. Da war kein Zwerg.
Die Karikatur erschien am 17. Juni 1794. Sie zeigte den Henker Charles-Henri Sanson, wie er sich selbst unter die Guillotine legt und den Eisenbolzen zieht, der das Fallbeil arretiert. »Warum guillotiniert sich der Henker selbst?«, stand in der Bildlegende. »Weil er der letzte Bürger von Paris ist. Jetzt endlich ist Paris gesäubert.«
Im Juni hatten Charles, Henri und ihre Gehilfen sechshundertachtundachtzig Todesurteile zu vollstrecken. Ein neues Gesetz war erlassen worden, das verbot, sich vor Gericht verteidigen zu dürfen. Die Radikalen um Robespierre, Saint-Just und Fouquier hatten sich derart vom Volk entfernt, dass sie ihren Wahnsinn nicht mehr erkannten. Alle wurden guillotiniert: Assignatenfälscher, Soldaten, Offiziere, Generäle, Priester, Jugendliche, Tuchhändler, Kriegsinvaliden, Behinderte, denen man zuerst die Knochen brechen musste, damit sie aufs Brett passten, gebrechliche alte Menschen, die nicht mehr allein die Treppe zum Schafott hochkamen. Die Revolutionäre brachten nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern Tod und Verderben und füllten die Friedhöfe.
Jetzt regierte tatsächlich Robespierre, der die Monarchie abgeschafft hatte, um dem Bürger die Freiheit zu geben. König Robespierre. Im Ausland sprach man von Robespierres Feldzügen, von Robespierres Truppen, von Robespierres Gesetzen und auch davon, dass er die Königskrone anstrebe. Diese Gerüchte freuten seine lauernden Feinde, denn sie liessen Robespierre als Tyrannen erscheinen, den es zu stürzen galt. Als einer den Mut hatte, dies öffentlich zu machen, floh Robespierre. Er kannte die Architektur des Terrors. In die Enge getrieben, schoss er sich bei einem missglückten Selbstmordversuch den Kiefer weg. Dieser Schreibtischtäter war in praktischen Dingen sehr ungeschickt, und Anatomie war nie seine Stärke gewesen. Nicht erstaunlich, dachte Charles, als er am 28. Juli zusah, wie Henri und die Gehilfen den Schlächter Robespierre zur Guillotine führten. Zwischen dem Erlass vom 10. Juni und dem Sturz Robespierres waren 1376 Menschen guillotiniert worden.
»Jetzt fehlt nur noch einer«, sagte Charles, als Henri die Treppe des Schafotts hinunterstieg.
»Lass es gut sein, Vater, ich will dich nicht da oben in einem roten Hemd sehen. Das Terrorregime löst sich auf. Es ist bald vorbei.«