»Ich sehne den Tag herbei, an dem ich endlich abschliessen kann.«
»Du hast abgeschlossen, Vater. Du hast mir dein Amt übergeben.«
»Es fehlt noch ein Urteil«, insistierte Charles, »ich werde so lange in die Conciergerie gehen, bis der Name auf der Liste steht.«
»Du vergeudest deine Zeit, Vater.« Henri berührte sanft seinen Arm.
»Ich weiss, Henri, aber vielleicht ist es das Letzte, das ich tun werde.«
Bereits am nächsten Tag suchte Charles die Conciergerie auf. Das Büro von Antoine Fouquier.
»Klopfst du nicht mehr an, Bürger Sanson?« Fouquier beugte sich wieder über seine Akten. »Dein Sohn hat die Liste bereits abgeholt.«
»Ich habe sie gesehen, Antoine, deine Liste. Es fehlt noch ein Name.«
Fouquier blickte kurz hoch. »Oh, du bringst mir einen Namen?«
»Ja«, sagte Charles, trat hinter den Schreibtisch und fasste Antoines Schultern. »Antoine Fouquier de Tinville!«
»Lass mich los, du tust mir weh.«
»Genau deshalb bin ich hergekommen, Antoine, um dir weh zu tun. Ich wurde ausgebildet, um den Menschen Schmerzen zuzufügen. Aber ich wollte heilen.«
Antoine riss sich los und wollte sich erheben, doch Charles drückte ihn mit Gewalt auf seinen Stuhl zurück und nahm seinen Nacken in einen eisernen Griff. »Auch ich habe Nachforschungen angestellt«, sagte er leise, »wie du damals in Rouen, Antoine Fouquier de Tinville, erinnerst du dich?«
»Ich werde die Wachen rufen«, schrie Antoine und versuchte vergeblich, sich aus der Umklammerung des Henkers zu befreien.
»Sie sind schon unterwegs«, sagte Charles, »du brauchst sie nicht mehr zu rufen.«
»Was soll das, Charles? Lass mich endlich los!«
»Du hast Gorsas unter die Guillotine geschickt, nachdem er aus London zurückkam. Er hat uns von dort etwas mitgebracht.«
»Ach ja?« Antoine ruderte hilflos mit den Armen.
»Ja, Antoine, ja.«
»Charles, wo soll das enden? Wie hast du dir das vorgestellt? Hier kommst du niemals lebend raus. Also lass mich endlich los!« Antoine geriet plötzlich in Panik und versuchte erneut, sich zu befreien.
Charles hatte den Stuhl umgedreht und schlug kräftig auf ihn ein. Wie eine Maschine schlug Charles zu, als wolle er jeden Einzelnen der Hingerichteten rächen. Und die Schläge trafen Antoine wie die Hufe eines Pferdes, das zu lange im Stall gestanden hatte. Selbst als Antoine schon blutüberströmt am Boden lag und sich wie ein Wurm vor Schmerzen krümmte, trat Charles nach ihm. Erst als sich Antoine nicht mehr bewegte, setzte sich Charles auf den Stuhl des obersten Anklägers. Sein Fuss ruhte auf Antoines Nacken.
»Ihr habt ein Gesetz erlassen, das den Besitz von Gold verbietet, damit ihr weiterhin das ganze Land mit eurem wertlosen Papiergeld ersticken könnt. Wer sein Gold nicht abliefert und gegen wertlose Assignaten eintauscht, wird sechs Jahre in Eisen gelegt. Aber auf den Dokumenten, die Gorsas in London von Walter Boyd erhalten hat, stehst du und deine gesamte Sippe an erster Stelle. Ihr habt eure eigenen Gesetze gebrochen und Millionen in Gold ausser Landes gebracht. Und du sollst nach deinen eigenen Gesetzen verurteilt und hingerichtet werden.«
»Damit kommst du nicht durch«, flüsterte Antoine. Er wollte sich erheben, doch Charles drückte ihn nieder. Antoine starrte entgeistert auf den Hünen über ihm. »Bist du von Sinnen, dafür endest du unter der Guillotine!«
Charles packte Antoine und riss ihn hoch. Er warf ihn auf den Tisch und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Dann zog er ihn an einem Bein zu sich heran und schlug erbarmungslos zu. Antoine kroch blutend unter den Tisch. Charles stellte ihn wieder auf die Beine. In diesem Augenblick griff Antoine blitzschnell nach der Glocke auf seinem Schreibtisch und schmiss sie gegen die Tür. Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestossen, und vier Gardesoldaten betraten das Büro.
»Nehmt ihn fest!«, befahl Antoine.
Die Gardesoldaten umzingelten beide.
»Ihr sollt ihn festnehmen, habe ich gesagt. Er soll noch heute unters Messer.«
Einer der Soldaten packte Antoines Arme, ein anderer fesselte sie.
»Was hat das zu bedeuten?«, schrie Antoine und versuchte sich zu befreien.
»Wir führen nur Befehle aus, Bürger Fouquier. Sie werden verhaftet, weil Sie widerrechtlich Gold besessen und es überdies ins feindliche Ausland gebracht haben. Sie haben der Revolution geschadet und mit dem Feind kollaboriert.«
»Wir sehen uns dann auf dem Schafott, Antoine Fouquier de Tinville. Ich bin gespannt, welche Farbe dein Blut hat«, sagte Charles.
»Gott hasst euch alle!«, schrie Antoine, während ihn die Soldaten aus dem Büro schleppten.
Charles stand bereits neben der Treppe zum Schafott, als Henri und die Gehilfen mit dem Wagen eintrafen. Sie hatten nur einen einzigen Gefangenen. Er sollte einer der Letzten sein, die am Ende des Terrorregimes in den Sack spuckten. Die Zuschauer waren zahlreich, der ganze Platz bis auf den letzten Quadratzentimeter besetzt.
»Fouquier«, brüllte jemand, so laut wie er konnte. Der Todgeweihte drehte sich um. Tobias Schmidt bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er torkelte zur Treppe und fiel vor Fouquier der Länge nach hin. Er war betrunken. »Sag mir dann, wie dir die Guillotine gefallen hat. Vielleicht hast du Verbesserungsvorschläge. Die Bolzen, Zungen und Nuten sollten aus Eisen sein und nicht aus Holz, nicht wahr? Und wie wär’s mit einem gelben Anstrich?«
Fouquier wandte sich von Schmidt ab und schritt selbständig die Treppe zum Schafott hoch. Firmin und Barre hielten Schmidt davon ab, ihm zu folgen. Charles stellte sich hinter die Guillotine, zwischen die beiden senkrechten Balken. Charles’ Konterfei war das Letzte, was Fouquier sah, als man ihn aufs Brett band und in die Waagerechte klappte.
Das Blut quoll über die Holzbohlen. Charles wurde nicht befleckt. Er wusste, wo man zu stehen hat.
Fouquiers Tod veranlasste Charles, erneut sein Tagebuch hervorzunehmen. Es war sein letzter Eintrag. Danach schwieg er für immer. Er war zu schwach, um die Feder zu führen. Es war zu viel für die Hand, die dreitausend Menschen guillotiniert hatte. Die letzten Worte in seinem Tagebuch waren: »Es gibt keinen Fluch. Es gab nie einen Fluch. Es gibt nur einen Fluch, wenn man daran glaubt. Aber ich glaube nicht mehr daran. Der Mensch ist frei in seinen Entscheidungen.«
Charles-Henri Sanson sah nie mehr ein Schafott. Er sass oft unten am Fluss und starrte ins Wasser. Er überlegte, ob es möglich sei, dass eins der Opfer wiederkehre. Eine spirituelle Begegnung oder etwas Vergleichbares. Bei so vielen Geköpften konnte es doch sein, dass einem Einzigen die Wiederkehr gelang. Wenn sich jemand näherte, versetzte ihn dies in Angst und Schrecken. War es real, oder war es die befürchtete Wiederkehr? Wenn er traurige Blicke sah, kam ihm stets in den Sinn, wie traurig viele Verurteilte ihn jeweils angeschaut hatten. Ich muss schon gehen, während andere bleiben können, schienen sie zu sagen. Die werden folgen, dachte Charles. Immer wieder zuckte er zusammen. Jedes Geräusch verband er mit der Maschine, die ihn versklavt hatte. Das Knarren der Holzbohlen, das giftige Quietschen, wenn das Klappbrett nach vorn gestossen wurde, das Zuklappen der Lünette, das Lösen des Bolzens, das Heruntersausen des Fallbeils, das dumpfe Aufschlagen des Kopfes im Weidenkorb.
Auch in der Küche gab es viele Geräusche, die ähnlich klangen. Sassen sie beim Essen am Tisch, fuhr er plötzlich hoch, sein Herz pochte, und das Blut wich aus seinem Gesicht. Er starrte Marie-Anne an, als wollte er in ihrem Gesicht lesen, ob er sich das alles eingebildet hatte. Sie lächelte und ging auf ihn zu. Er verstand nicht, wieso sie jetzt hier war und lächelte. Sanft legte sie von hinten ihre Hände auf seine Schultern. Manchmal sprach sie sogar zu ihm. Sie sagte, alles sei gut. Oder sie fragte ihn, ob er noch Suppe wolle. War er noch hungrig, nickte er. Es war ein besonderer Kopf, kahl, hager, und wenn ihn keine Geräusche aufschreckten, strahlte er eine grosse Ruhe und Würde aus. Seinen Gehilfen entging nicht, wie er sich veränderte. Aber zu gross war der Respekt, den sie Monsieur de Paris entgegenbrachten. Henri sass immer zu seiner Rechten am Tisch und legte stets seine Hand auf die seines Vaters, wenn diese kaum merklich zitterte. Fast zärtlich berührte er die Hand und fuhr mit dem Daumen darüber.