Charles ritt am Gärtnerhaus seiner verstorbenen Schwiegereltern vorbei, den endlosen Gemüsebeeten entlang, bis er den Wald erreichte. Er nahm den schmalen Pfad, der sich im Laufe der Jahre gebildet hatte, und ritt hoch hinauf in den Wald, bis er oben auf dem Hügel die saftigen Wiesen sah, die von Felsen begrenzt wurden. Dort, wo die Wiesen im Schatten lagen, waren sie immer nass, so dass sein Pferd mit den Hufen darin versank. Er stieg ab und stampfte durch den Matsch. Dann sah er die Pilze. Der Fruchtkörper hatte ungefähr die Höhe einer Hand. Als Charles den Pilz pflückte, verfärbte sich die Bruchstelle blau. Er ritt zurück in den Wald, bis er die Seite erreichte, die der Sonne zugewandt war. Dann ritt er hinunter zum Fluss. Hier war der Boden trocken. Er nahm den Sattel von seinem Pferd und warf ihn über einen Baumstrunk. Er legte sich hin und ass den Pilz.
Zuerst hörte er nur vereinzelte Vogelstimmen, dann wurden es mehr und mehr. Es war, als würde die ganze Welt für ihn singen. Der Himmel begann zu atmen, aber er hatte keine Angst, erdrückt zu werden, denn er fühlte sich so leicht, als schwebte er auf Daunen. Charles wusste aus der Literatur, die ihm sein Vater hinterlassen hatte, dass dieser Pilz in grauer Vorzeit dazu benutzt worden war, das Schicksal zu befragen. Deshalb nannte man ihn das Fleisch der Götter. Er spürte, wie Gott in ihn fuhr. Er spürte das Kribbeln von Ameisen in seinen Schultern, spürte, wie sie langsam der Wirbelsäule entlang hinabwanderten, bis sie den ganzen Körper besetzt hatten. Dann setzte die Kälte ein. Er versuchte aufzustehen, doch er schwankte wie ein Betrunkener. Selbst sein Pferd wich vor ihm zurück. Die Farben und Lichter um ihn herum begannen zu sprühen, und plötzlich sah er etwas kommen, wie in einem Kaleidoskop. Er legte sich wieder hin und spürte einen Hauch von Ewigkeit.
»Vater«, sagte Henri, »was ist mit dir?«
»Ich habe Gott gegessen«, flüsterte Charles. »Doch Gott ist nur ein Pilz«, fügte er mit einem leisen Anflug von Bedauern an, »nur ein Pilz.«
Henri löste sich aus dem Kaleidoskop. Er kniete vor seinem Vater nieder.
Der Fluss, sagte Charles melancholisch, sei der wahre Lehrmeister des Lebens. »Alles fliesst. Nichts bleibt stehen. Du kannst den Fluss nicht festhalten, Henri. Das Wasser zerrinnt in deinen Händen. So ist das Leben. Du schwimmst mit, und kein Tropfen ist von Bedeutung, aber alle Tropfen zusammen, alle zusammen mögen eine Bedeutung haben, aber es spielt keine Rolle. Hast du schon einmal versucht, dir einen Tropfen Wasser im Fluss zu merken? Am Ende spielt eh alles keine Rolle. Ob du kurz oder lange gelebt hast, die Ewigkeit relativiert die Anzahl der Jahre, die du hier auf Erden verbracht hast. Und letztendlich hat auch der Fluss keine Bedeutung.«
»Vater«, sagte Henri, »wieso sprichst du so?«
»Der Tod ist die Befreiung und das Ende aller Übel. Über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus. Er versetzt uns in jene Ruhe zurück, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«
Charles sass inmitten seiner Kräuter im Hof seines Hauses. Er trug eine braune Kniebundhose, graue Strümpfe und schwarze Lederschuhe, deren Rist von einer grossen Schnalle überzogen war, ein braunes Hemd und einen schwarzen Dreispitz. Er überlegte, ob er nochmals hinaufreiten und nach Pilzen suchen sollte. Doch dann vergass er den Gedanken und konnte sich mit dem besten Willen nicht mehr erinnern, woran er gerade gedacht hatte. Vielleicht an die Köpfe auf dem Friedhof. Musste er sie wieder ausgraben? Das war wohl das mindeste, was er für sie tun könnte. Vielleicht warteten sie auf ihn.
»Der Tod besucht jeden«, flüsterte Charles, »einige leben lange, andere sterben jung. So kommt der Tod zu Menschen jeden Alters, wie bei den Tieren und den Bäumen, und niemand lebt wirklich lange.«
Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Es roch nach nassem Hundefell. Nach anfänglichem Zögern berührte er die Hand und hielt sie fest. Es war Zeit für das Abendessen.
Epilog
Am 18. März 1847 betrat eine alte Frau mit schwarzem Schleier die Kirche Saint-Laurent in Paris und blieb in der Mitte des Kirchenschiffes stehen. Durch die gotischen Fenster drang nur spärliches Licht, doch die Frau sah, dass jemand in der vordersten Bank kniete. Das musste er sein. Man hatte ihr gesagt, sie würde ihn hier finden. Ihre Schritte widerhallten auf dem Steinboden. Als sie die vorderste Bank erreicht hatte, kniete sie neben dem Mann nieder und faltete die Hände zum Gebet.
»Sind Sie Henri-Clément Sanson, der Enkel des grossen Charles-Henri Sanson?«, fragte sie leise.
Der Mann rührte sich nicht. Sein Gesicht war ungepflegt und vom Alkohol aufgedunsen. Er mochte gegen fünfzig sein. »Kommen Sie mir nicht zu nahe«, murmelte er, »ich bringe den Menschen kein Glück. Auf meinem Geschlecht lastet ein Fluch. Also gehen Sie, Gott hat heute eh keine Zeit für Sie.«
»Gott hat immer Zeit«, sagte die Frau ohne jegliche Überzeugung, »oder, sagen wir, meistens.«
»Mag sein«, sagte Henri-Clément, »aber heute brauche ich ihn für mich ganz allein.« Er starrte auf das Mosaikbild über dem Altar. Es zeigte die Wiederaufstehung Jesu.
»Glauben Sie an die Auferstehung?«, fragte sie.
»Nein, Madame, ich fürchte sie. Alle meine Vorfahren haben sie gefürchtet. Weil sie die Toten fürchten. Die Rückkehr der Toten. Zuerst verspürt man nur einen feinen Luftzug. Und plötzlich sind sie da und starren. Der letzte Blick eines Sterbenden prägt sich ein wie ein Brandmal. Wir haben viele Schultern gebrandmarkt. Noch heute habe ich den Geruch von schmorendem Menschenfleisch in der Nase. Ich habe die Wunden jeweils mit Schweineschmalz und Schiesspulver eingerieben. Ich habe nicht nur getötet, ich habe auch Schmerzen gelindert, ich habe geheilt. Wie alle meine Vorfahren.« Er senkte den Kopf und versuchte zu beten. Nach einer Weile herrschte er die alte Frau an: »Finden Sie keinen anderen Ort zum Beten?«
Sie schwieg.
Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen. Vergebens. Nachdenklich fuhr er sich über die schwarzen Bartstoppeln und flüsterte: »Mein Grossvater wollte nie Henker werden. Ich auch nicht. Ich habe diesen Beruf immer gehasst.«
»Es gab nie einen Henker wider Willen, dafür war die Bezahlung zu gut«, erwiderte sie verächtlich. »Es gab nie einen Fluch. Ich bin nach Paris gekommen, Monsieur, um die Tagebücher Ihres Grossvaters zu kaufen. Er hat doch während der Revolution Tagebuch geschrieben?«
»Ja«, sagte er, »mein Grossvater war Charles-Henri Sanson, der grosse Henker der Französischen Revolution. Man nannte ihn ehrfürchtig Monsieur de Paris. Er hat mir alles erzählt. Mein Vater hat sich kaum dafür interessiert. Die Geschichte wird ihn vergessen. Aber meinen Grossvater, den wird man nicht vergessen.«
»Wo sind die Tagebücher, Monsieur? Ich will sie sehen. Ich will lesen, was der grosse Sanson über mich geschrieben hat.«
»Über Sie? Wie auch immer: Ich bezweifle, dass Ihnen die Aufzeichnungen Freude bereiten werden. Aber wenn Sie darauf bestehen, Madame, wird es etwas kosten. Ich brauche Geld. Kennen Sie d’Olbreuse? Ein Mann der Feder. Er sucht Memoiren für seine Druckerei. Er sucht skandalträchtige Tagebücher. Balzac soll ihm bei der Überarbeitung helfen. Es ist zu viel für einen einzigen Mann. Dreitausend Morde, das kann ein Mensch allein nicht verkraften …«
»Und doch hat es einer getan«, unterbrach sie ihn.
»Er hat es getan, aber den Frieden, den hat er nicht mehr gefunden.« Henri-Clément lachte leise und warf der Frau einen prüfenden Blick zu. »Was wissen Sie schon über die Sansons?«
»Eine ganze Menge«, murmelte sie vieldeutig, »aber das ist jetzt nicht wichtig. Hat d’Olbreuse die Tagebücher schon gelesen?«