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»Madame, ich werde Sie zum Weinen bringen.«

»Daran ist noch keiner gestorben, fangen Sie an!«

»Ich brauche Wein, Madame. Anders ist es nicht zu schaffen.«

»Ich weiss, man hat mich gewarnt.« Sie nahm eine Flasche Rotwein aus ihrem Mantel hervor und stellte sie neben sich auf die Bank.

Henri-Clément griff sofort danach, riss den Korken heraus und trank die halbe Flasche in einem Zug. Dann begann er zu erzählen: »Mein Grossvater Charles-Henri Sanson starb 1806 im Alter von siebenundsechzig Jahren. Meine Grossmutter überlebte ihn um elf Jahre …« Er setzte erneut zum Trinken an.

»Monsieur«, sagte Madame Tussaud ungeduldig, »Sie sind ein erbärmlicher Trunkenbold. Geben Sie mir die Tagebücher, ich werde sie kaufen. Ich kann mir dieses larmoyante Gesabber nicht mehr länger anhören.«

»Es gibt keine« erwiderte er, »es gibt Aufzeichnungen, wer wann und warum hingerichtet worden ist. Zudem Inventarlisten der Kleider der Getöteten. Ich habe den Text ergänzt mit Zeitungsberichten aus der damaligen Zeit, Augenzeugenberichten, Aufzeichnungen von emigrierten Franzosen …«

»Ich weiss, dass es ein Originalmanuskript gibt. Ihr Grossvater führte eine Buchhaltung des Schreckens.«

»Aber um es verständlicher zu machen, musste ich es etwas ausbauen. Ich erhielt dreissigtausend Franc dafür. Der Journalist d’Olbreuse hat mir etwas geholfen, für siebzehntausend. Und als die Druckerei noch Balzac beizog, gab’s gleich fünf neue Bände. Den Mann müsste man mit der Axt erschlagen, damit er aufhört zu schreiben.« Er kramte in seiner Tasche und zog ein Amulett hervor. »Mein Vater schenkte mir diesen Glücksbringer: eine geborstene Glocke. Aber sie brachte auch mir kein Glück. Ich schenke sie Ihnen, wenn Sie mir noch eine Flasche Wein geben.«

»Ich pfeife auf Ihr Amulett und Ihre Memoiren, Monsieur. Es ist eh alles erstunken und erlogen. Zeigen Sie mir jetzt die Guillotine.«

»Sie ist nicht da«, murmelte er und senkte den Kopf.

»Wo ist sie?« Madame Tussaud war fassungslos.

»Ich habe sie ausgeliehen.«

»Ausgeliehen?«

»Dem Pfandleiher, gleich hier um die Ecke, ich brauchte Geld. Ist das so schwer zu verstehen? Sie können die Guillotine haben, aber zuerst müssen Sie sie aus dem Pfandhaus auslösen. Das geht ganz einfach, ich habe es schon oft getan. Manchmal musste es Canler tun, der Chef der Pariser Sûreté. Er hat mir gedroht, dass er mich fristlos entlässt, wenn es noch einmal passiert. Jetzt ist es wieder passiert. Wir sollten uns beeilen, bevor er es erfährt. Wann fährt Ihr Schiff nach London?«

Nachwort

Henri-Clément Sanson wurde am 18. März 1847 fristlos entlassen. Er hatte tatsächlich die Guillotine verpfändet. Seine Frau verliess ihn, er verfiel dem Alkohol und jungen Tänzerinnen und starb schliesslich 1889 im Alter von neunundachtzig Jahren.

Madame Tussauds Museum in London wurde 1925 durch ein Feuer zerstört, drei Jahre später aber wiedereröffnet und 1940 durch eine deutsche Bombe in Schutt und Asche gelegt, wobei ausgerechnet Adolf Hitlers Büste zufällig verschont blieb.

Charles-Henri Sanson führte während der Französischen Revolution Tagebuch. Er schrieb in einem nüchtern-trockenen Stil, der uns heute erschauern lässt. Es ist belegt, dass sein Enkel Henri-Clément Sanson diese Aufzeichnungen an den Journalisten d’Olbreuse verkaufte, der im Auftrag des jungen Druckereibesitzers Dupray nach einem Bestsellerstoff suchte. Dupray war ein visionärer Geist: Er revolutionierte Typographie und Verlagswesen und wollte mit einem Bestseller in ganz Frankreich für seine Druckerei werben. Es ist auch belegt, dass der junge Honoré de Balzac, der Henri-Clément Sanson persönlich kannte und befragte, einen Teil dieser Mémoires de Sanson als Ghostwriter schrieb. Dabei plünderte er diverse eigene Manuskripte seiner Comédie humaine, unter anderem Une messe en 1793 und Scènes de la vie politique et militaire. Wahrscheinlich erfand Balzac die schöne Klammer mit dem »Fluch« der Dynastie. Er war Romancier, und entsprechend üppig hat er die Fakten ausgeschmückt und seiner Dramaturgie unterworfen.

Mit Ausnahme der Figur Dan-Mali, die mit diesem Namen nicht überliefert ist, sind alle namentlich genannten Personen historisch belegt und teilweise mit Originalzitaten ausgestattet, die in Zeitungen gedruckt oder von Zeitzeugen in Briefen und Tagebüchern festgehalten wurden.

Die Französische Revolution gehört zu den prägendsten Ereignissen der neueren europäischen Geschichte. Inspiriert durch den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783), ist sie Wegbereiterin der westlichen Demokratien. Aufklärung und Menschenrechte gehören zu ihren grössten Errungenschaften. Aus zeitgenössischer Sicht brachte sie den Franzosen aber nicht nur die bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern auch vorübergehend (1793–1794) Terror und Massenhinrichtungen. Erst in der dritten und letzten Phase (1795–1799) trat eine Beruhigung ein, als die äusseren und inneren Feinde das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen konnten.

Der Terror in den Jahren 1793 und 1794 verlief genauso blutig und menschenverachtend wie die Gewaltherrschaft der Roten Khmer im Kambodscha der 1970er Jahre. Unter Pol Pot versuchten sie, das Bürgertum auszurotten, und verhängten – genau wie die revolutionären Jakobiner Frankreichs – selbst für Bagatelldelikte und vage Verleumdungen die Todesstrafe. Legitimiert wurde die Ermordung von geschätzten 1,7 Millionen Kambodschanern damit, dass man den »neuen Menschen« schaffen wollte und dafür notfalls durch ein »Meer von Blut« waten müsse. Wie Robespierre und Saint-Just verfielen auch die Roten Khmer in einen derartigen Verfolgungswahn, dass die Säuberungswellen auf die eigenen Reihen überschwappten und Genossen der ersten Stunde eliminiert wurden.

Die Französische Revolution hat wie kaum ein anderes Ereignis die Moderne geprägt und in ihren Nachwirkungen den Menschen in der westlichen Welt ein Höchstmass an persönlicher Freiheit geschenkt. Zahlreichen Ländern in der Dritten Welt steht eine derartige Revolution noch bevor.

Danksagung

Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Isolationsstation und des Zellersatzambulatoriums des Universitätsspitals Basel für die Behandlung meiner Leukämie seit Herbst 2009. Ich bedanke mich auch beim anonymen Knochenmarkspender.

Ich danke meinem Agenten Sebastian Ritscher, der geduldig und freundschaftlich die Entstehung des Romans unter schwierigen Bedingungen begleitet hat. Bedanken will ich mich auch bei Emmanuel Goetschel und Alex Hägeli, die nach dem Tod meiner ersten Frau 2008 viel für meine Familie getan haben. Dank gebührt meinem Sohn Clovis, meinem täglichen Lektor und besten Freund, für seine dramaturgischen Vorschläge, die zur Verbesserung dieses Buches beigetragen haben. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Dina, die als philippinische Freundin von Hongkong in die Schweiz kam und heute meine Frau ist. Sie hat mich mit ihrer Lebensfreude und ihrer stets positiven und humorvollen Lebenseinstellung durch sehr schwierige Zeiten begleitet.

Bedanken will ich mich auch beim Lenos Verlag. Heidi Sommerer, Christoph Blum und Tom Forrer haben mit einem sehr sorgfältigen Lektorat die Qualität verbessert und dem Buch zum Leben verholfen.

Claude Cueni, Allschwil bei Basel, Dezember 2012