Jouenne zog erschreckt die Augenbrauen hoch. Damit hatte er nicht gerechnet. Wie die meisten Menschen fürchtete er die Veränderung. »Ich dachte, das Thema sei erledigt. Wir haben doch bereits darüber gesprochen. Wenn du nach Paris gehst, wählst du die Armut. Was willst du in Paris?«, fragte er sichtlich erbost. »In Paris kannst du Henker werden, Chevalier, aber dann kannst du genauso gut hierbleiben.« Aus Gewohnheit nannte er seinen Schwiegersohn noch immer Chevalier.
»Ich will irgendetwas werden«, entgegnete Jean-Baptiste trotzig, »Drechsler, Händler, Schuhmacher. Alles. Ausser Henker.«
Jouenne schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich sag’s dir ungern, Chevalier, aber du hast zwei linke Hände. Du bist ein Mann fürs Grobe. Du musst das machen, was andere nicht können. In den Strassen von Paris Dung einsammeln, das kann jeder Trottel. Und unter Trotteln ist die Konkurrenz am grössten. Du kannst noch vieles lernen, sei es in der Anatomie oder der Botanik, aber dafür musst du noch eine Weile hierbleiben. Ich werde nicht ewig leben, Chevalier. Dann könnt ihr nach Paris«, schloss er versöhnlich und schaute zum kleinen Charles hinüber, der auf dem Fussboden mit Holzsoldaten spielte. Doch der Gedanke, dass sein Schwiegersohn nicht lockerlassen würde, trieb ihn fast zur Verzweiflung. Er würde nie mehr für seinen Enkel kleine Tiere schnitzen. »Nein, nein«, sagte er laut, »du wirst hierbleiben und dich daran gewöhnen.«
Jean-Baptiste war sichtlich verärgert, er wollte nicht warten, vertröstet werden, womöglich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
»Meinst du im Ernst, die Leute in Paris wollen, dass ihnen ein Henker aus der Provinz Brot oder Wein verkauft?«, ereiferte sich Jouenne erneut.
»Er hat doch recht«, sagte Joséphine vorsichtig, »du wirst keine Arbeit finden, die besser bezahlt ist als das Amt des Henkers, Jean-Baptiste. Was soll aus unserem kleinen Charles werden? Du musst Henker werden. Deinem Sohn zuliebe.«
»Aber nicht hier!«, beharrte Jean-Baptiste. Er wusste genau, dass Jouenne nie im Leben nach Paris umsiedeln würde. »Wenn wir jetzt nicht gehen, wird meine Sehnsucht erlöschen. Ich kann mich nicht ein Leben lang nach den Wünschen anderer Menschen richten. Dafür bin ich seinerzeit nicht in die Neue Welt geflohen.«
Jouenne schmiss seine Karten auf den Tisch und trank seinen Becher leer. Er griff nach der Karaffe und verliess die Küche.
Jean-Baptiste wollte um jeden Preis nach Paris. Der Traum war nicht totzukriegen, er liess ihn nachts wach liegen. Mit offenen Augen starrte er in die Finsternis. Sein Verlangen war unersättlich.
Seit diesem Abend war es ruhiger geworden auf dem verwunschenen Gehöft. Jouenne war sehr bemüht, seinem Schwiegersohn neues medizinisches Wissen zu vermitteln. Es war das Opfer, das er bringen musste, damit sein Enkel die Tage in seiner Pharmacie verbringen konnte. Er weihte Jean-Baptiste in die Geheimnisse der Pflanzenheilkunde ein. Aber in Wirklichkeit lehrte er sie den kleinen Charles. Dieser hatte einen Bärenhunger nach Wissen. Und unendlich viele Fragen. Die Kräuter und ihre Wirkung übten eine enorme Faszination auf ihn aus. Er kannte sie bald alle, die heilbringenden Kräuter, und er wusste genau, wann und wo man sie pflücken konnte. Jean-Baptiste konnte es nur recht sein, aber er neidete seinem Schwiegervater sein Wissen. Er spürte bald, dass er in der Pharmacie nur ein Platzhalter war, damit Jouenne mit Charles zusammen sein konnte. Charles liebte seinen Grossvater. Da er in der Gegend keine gleichaltrigen Spielkameraden hatte, verbrachte er freiwillig die meiste Zeit in der Pharmacie und pulverisierte alles, was ihm sein Grossvater auf die Werkbank legte: Kräuter, Gewürze, Blätter, Stiele, Blüten, Wurzeln und Baumrinden. Und Charles hatte ein gutes Gedächtnis. Er merkte sich die Düfte, die Farben, die Konsistenz und vor allem die richtigen Dosen. Denn sein Grossvater predigte ihm bei jeder Gelegenheit, dass jede Mixtur heilen oder töten könne. Es komme ausschliesslich auf die Dosis an.
Grossvater Jouenne brachte ihm auch recht früh Lesen und Schreiben bei und zeigte ihm Bücher über Botanik und Pharmazie, insbesondere zwei grosse Werke mit wunderschönen Illustrationen. Charles schaute sich die beiden Bücher jeden Tag an. Stundenlang konnte er seiner Mutter davon berichten. Stolz und beinahe andächtig lauschte sie den Worten ihres Sohnes und liess ihn nicht merken, dass sie das alles kannte. Es war eine ruhige Zeit, in der Jouenne und Jean-Baptiste nicht sehr oft die Place du Puits-Salé aufsuchen mussten. Es war ruhig, aber für Jean-Baptiste unbefriedigend. Sein Wunsch, nach Paris zu ziehen, blieb konstant, die Sehnsucht stark und fordernd. Manchmal versuchte er, mit Joséphine über Paris zu sprechen. Sie umarmte ihn dann jeweils mit grosser Zärtlichkeit und lächelte. »Wir haben es doch gut hier. Es fehlt uns an nichts.« In solchen Augenblicken war ihm die Liebe zu Joséphine und die bedingungslose Fürsorge für Charles wichtiger als Paris. Er hatte Verständnis dafür, dass Joséphine selbst als verheiratete Frau ihrem Vater gehorchen wollte, sogar dann, wenn er nichts befohlen hatte. Er liebte sie viel zu sehr, als dass er irgendetwas hätte unternehmen können, das sie traurig gestimmt hätte. In gewissem Sinne war er ihr völlig ergeben. So stülpte er sich weiterhin die schwarze Kapuze über und wartete auf Jouennes Tod. Er realisierte, dass auch er dabei älter wurde, und eines Tages wünschte er sich sogar Jouennes Tod herbei. Er wollte endlich der Vater von Charles sein und Joséphine für sich allein haben. Doch der Alte wollte nicht sterben.
Es war Joséphine, die starb, völlig unerwartet im Sommer des Jahres 1744, kurz nach dem fünften Geburtstag des kleinen Charles. Auch Meister Jouenne wusste nicht, woran sie gestorben war. Wahrscheinlich wusste es selbst Gott nicht. Joséphine schien friedlich entschlafen zu sein. Jouenne meinte, vielleicht habe sie innere Blutungen gehabt. Manchmal platze eine Arterie im Körper, im Kopf oder beim Herzen, das komme in seiner Familie häufiger vor. Man werde schläfrig, schlafe ein, verliere das Bewusstsein und wache nie mehr auf.
Joséphine wurde hinter der Kapelle zu Grabe getragen. Charles sagte kein einziges Wort. Aber die Tränen liefen ihm in Strömen über die Wangen. Er umklammerte Jean-Baptistes Hand so stark, als wollte er sicher sein, dass sein Vater nicht auch zum lieben Gott heimkehrt, und Jean-Baptiste wunderte sich, dass sein kleiner Charles den lieben Gott noch lieben Gott nannte. Nur der Postbote erschien zur Beerdigung, aber nicht aus Anteilnahme, sondern weil er einen Brief für Jouenne hatte. Jouenne steckte ihn unter sein Wams, ohne ihn zu lesen. Er wollte Wein trinken. Am Morgen, am Mittag, am Abend und die ganze Nacht über. Meister Jouenne holte seine besten Weine aus dem Keller, und er und Jean-Baptiste wurden tagelang nicht mehr richtig nüchtern. Charles sass auf dem Sofa und blätterte in den kostbaren Pflanzenbüchern seines Grossvaters. Manchmal schaute er kurz auf. Er sah, dass die beiden Männer immer noch tranken, und las weiter.
Eines Morgens torkelte Meister Jouenne über den Hof und holte zwei Pferde aus der Scheune. Er spannte sie vor den Fuhrwagen und trat dann erneut in die Küche. Jean-Baptiste war über dem Tisch eingeschlafen. Als sich Jouenne setzte und den Weinkrug umkippte, schreckte er hoch. Sein Kopf brummte. Er wusste, dass irgendetwas geschehen war. Dann kam ihm in den Sinn, dass Joséphine gestorben war.
Jouenne nahm den Brief unter seinem Wams hervor und schob ihn seinem Schwiegersohn zu. »Ich hatte vor einiger Zeit dem Pariser Gerichtshof geschrieben und mich für eine Stelle in Paris beworben für den Fall, dass eine frei wird. Jetzt ist der Henker von Paris gestorben.«
Jean-Baptiste las das Schreiben sorgfältig durch. Er war sprachlos.
»Es sollte eine Überraschung sein«, brummte Jouenne, »ich dachte, es macht dich glücklich, wenn wir alle zusammen nach Paris ziehen. Ich hab’s für euch getan.«
»Die Königliche Kommission des Pariser Gerichtshofes hat dich zum neuen Henker von Paris berufen?«