»Ja, und mit mir hat sie auch dich berufen. Ergreife die Hand, die dir das Schicksal reicht. Zögere nicht.«
Für Jean-Baptiste kam das alles völlig unerwartet.
»Am 23. September musst du in Paris sein. Warte nicht! Im September wird es nass und kalt, und die Strassen weichen auf.«
Jean-Baptiste schenkte Wein nach und fragte: »Und du?«
»Ich erlebe den Herbst meines Lebens. Ich spüre, dass der Winter naht. Aber mach dir nichts draus. Und freu dich. Du wirst zehntausend Livre erhalten, das ist das Dreifache meines Verdienstes.«
Jean-Baptiste schwieg. Es hatte ihm die Stimme verschlagen.
»Denk an deinen Sohn. Die Mieten sind hoch in Paris, und du wirst eine Magd brauchen.« Der kleine Charles setzte sich auf Jouennes Knie und schaute ihn besorgt an. Jouenne setzte ihn wieder ab. »Jetzt, da du entschieden hast zu gehen, solltest du rasch gehen«, sagte er, ohne Jean-Baptiste anzusehen. »Der Fuhrwagen steht im Hof bereit. Ich habe die Pferde angespannt. Ich werde sie nicht mehr brauchen. Und vergiss die Bücher nicht, wenn du gehst. Sie sind für Charles. Er ist ein gescheiter Kopf. Schick ihn auf eine Schule, wenn die Zeit gekommen ist. Jeder Fluch findet eines Tages sein Ende. Ich denke nicht, dass er in deine Fussstapfen treten will. Gewähre ihm, was dir verwehrt blieb.«
Jouenne nahm die Weinflasche und verliess die Küche. Dann steckte er noch mal den Kopf zur Tür herein. »Deine Goldmünzen liegen auf Joséphines Nachttisch. Die Satteltasche ist in der Scheune. Jetzt kannst du mir ja sagen, woher du dieses Gold hast. Gestohlen?«
»Nein, ich habe es einem toten Offizier auf dem Schlachtfeld Terre Rouge in der Neuen Welt abgenommen.«
»Leichenfledderer«, sagte Jouenne abschätzig.
»Das Totenhemd hat keine Taschen«, sagte Jean-Baptiste, »ich werde das Gold für Charles’ Schulausbildung brauchen.«
Jouenne wandte sich ab. Er überquerte den Hof und verschwand hinter der Scheune. Jean-Baptiste blieb mit Charles in der Küche. Er wärmte die Kartoffeln vom Vortag und briet sie mit frischem Knoblauch, Zwiebeln, Basilikum und Käse. Meister Jouenne kam nicht zurück. Da beschloss Jean-Baptiste, ihn suchen zu gehen. Sie würden ein letztes Mal zusammen essen.
Er ging über den Hof. Jouenne hatte bereits eine Pferdedecke auf der Ladefläche des Fuhrwagens ausgebreitet. Gut verschnürt lagen dort unter anderem seine pharmazeutischen Nachschlagewerke. Es roch nach Verbranntem. Zuerst dachte Jean-Baptiste an die Kartoffeln, aber dann erinnerte er sich, dass er die Kasserolle vom Feuer genommen hatte. Hinter der Scheune stiegen Rauchschwaden auf. Charles rannte aus dem Wohnhaus und schrie, dass es irgendwo brenne. Zusammen liefen sie hinter die Scheune. Der Rauch kam aus der Kapelle. Über dem Eingang war ein Querbalken mit einer Inschrift. An diesem Balken baumelte Meister Jouenne.
»Es ist der Fluch«, murmelte Jean-Baptiste und schloss Charles in die Arme. »Ich hoffe, dass du eines Tages nur Mädchen haben wirst. Bloss keinen Sohn. Der Spuk muss ein Ende haben.«
»Und ich? Muss ich denn auch Henker werden?«
»Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es wissen.«
2
Jean-Baptiste Sanson fuhr mit Charles nach Paris. Die wertvollsten Arbeitsutensilien von Meister Jouenne hatte er auf den Fuhrwagen gepackt: nebst den Werkzeugen die ganze Pharmacie, die teuren Bücher und einen Haufen Kleider, aus denen man das Blut nicht mehr herauswaschen konnte. Eines Tages würde man die Flecken nicht mehr sehen, weil alles rot war, sinnierte Jean-Baptiste, während er die Pferde antrieb. Er sah das Blut längst nicht mehr, das aus den Verurteilten spritzte, wenn man ihnen mit dem Schwert den Kopf vom Rumpf trennte. In Jouennes Keller hatte er kleine Fässer mit Apfelschnaps gefunden. Die hatte er auch auf den Fuhrwagen geladen. Er würde den Schnaps brauchen. Seit er mit Charles das verwunschene Gehöft verlassen hatte, plagten ihn düstere Gedanken. Gab es diesen Fluch, oder gab es ihn nicht? Wenn er an Gott glaube, hatte Jouenne gesagt, dann müsse er auch an Flüche glauben. Und wenn der Fluch ein Werkzeug Gottes war, dann grenzte es an Lästerung, dagegen anzukämpfen. Er zweifelte eigentlich daran, dass alles, was sich auf der Erde abspielte, einem ausgeklügelten göttlichen Plan entsprang. Aber er wagte nicht, den Gedanken zu vertiefen. Zu stark war die Furcht, dafür bestraft zu werden. So fuhren sie schweigend durch die Wälder. Der kleine Charles sagte manchmal mit leiser Stimme: »Das ist ein Kastanienbaum« oder »Das ist eine Akazie.« Dann schaute er zu seinem Vater hinauf und wartete, bis dieser nickte. Sein Grossvater hatte ihn alles gelehrt. Charles kannte die Buchen, die weissen und die roten, die Ahornbäume, die Eberesche, den Spitzahorn und den Bergahorn, die Eibe und die Eiche. Sie alle begannen ihre Blätter abzuwerfen und den Waldboden mit einer gelbroten Laubschicht zu bedecken, als gelte es, den Weg gegen den Frost des nahenden Winters zu schützen. Unterwegs hielten sie kurz an, weil Charles Wasser lassen musste. Er trödelte verträumt herum und bückte sich nach etwas, das er im Laub gefunden hatte. »Ein Wurm«, sagte Charles und zeigte ihn seinem Vater, »ich habe noch nie einen so grossen Wurm gesehen.«
Jean-Baptiste lächelte matt und gab Charles ein Zeichen, wieder auf den Wagen zu steigen. »Lass den Wurm seine Arbeit verrichten. Zusammen mit den Milben und Asseln verarbeitet er das Laub zu Humus. So hat alles seinen Sinn.«
Charles nickte und bestieg den Wagen. Als sie aus dem Wald hinausfuhren, fragte er plötzlich, wieso sein Vater nun doch Henker in Paris werden wolle. Er habe doch diesen Beruf nie gewollt. Jean-Baptiste schaute seinen Sohn nachdenklich an. Schliesslich blickte er wieder über die Köpfe der trabenden Pferde nach vorn. »Ich will nicht, Charles, aber ich muss. Ich habe keine andere Wahl.«
»Du kannst doch etwas anderes tun, niemand sieht dich, niemand wird es wissen.«
»Da irrst du dich aber gewaltig«, sagte Jean-Baptiste bitter. »Hat ein Fluss denn eine Wahl? Er fliesst in seinem Bett, manchmal tritt er über die Ufer, aber er kann den Lauf nicht ändern und endet im grossen Ozean.«
Sie fuhren entlang den Apfelplantagen Richtung Paris. Jean-Baptiste erzählte ab und zu von seiner Jugend, von der Neuen Welt, doch Charles schwieg. Jean-Baptiste war sich aber sicher, dass sein kleiner Sohn aufmerksam zuhörte und dass seine Stimme ihn beruhigte.
»Ich werde Henker«, sagte Jean-Baptiste plötzlich, »damit du nie Henker werden musst. Ich liebe dich, Charles. Du bist wichtiger als mein eigenes Leben. Ich werde alles tun, damit du ein besseres Leben hast. Wenn es in einigen Jahren immer noch dein Wunsch ist, sollst du Arzt werden.«
In der Ferne sahen sie zwei Männer am Strassenrand stehen. Instinktiv legte Jean-Baptiste eine Hand auf den Knauf seines Degens. Als der Wagen die beiden Fremden erreicht hatte, baten sie, in den Wagen steigen zu dürfen. Es waren Tagelöhner, die in Paris Arbeit suchen wollten. Sie waren schäbig gekleidet, und der Hunger hatte ihre Körper ausgemergelt. Doch kaum hatten sie den Wagen bestiegen und die Henkersutensilien gesehen, sprangen sie entsetzt wieder herunter. »Das ist ein Henker!«, schrie der eine. »Warum gibt er sich nicht zu erkennen?«, brüllte der andere voller Zorn. Jean-Baptiste fuhr unbeirrt weiter, während einige Steine über seinen Kopf hinwegflogen. »Siehst du«, sagte er zu Charles, »da tust du deine Pflicht, und die Leute verachten dich dafür. Wir werden in Schimpf und Schande leben.«
Sein Sohn schaute zu ihm hoch und ergriff seinen Arm. »Wenn ich einmal Arzt bin, wirst du nicht mehr arbeiten müssen, Vater. Ich werde eine Mixtur erfinden, die Mutter geheilt hätte. Sie wird dann stolz sein auf mich.«
»Pläne sind gut, Charles. Sie geben ein Ziel vor, eine Richtung, doch wenn die Menschen Pläne machen, lacht Gott. Der ganze Himmel lacht. Denn dort oben verspottet man uns.«
Charles nickte, obwohl er nicht richtig verstand, welche Schwermut seinen Vater befallen hatte. Er legte den Arm seines Vaters um seinen Hals und drückte die Hand auf seine Brust. »Versprich mir, dass du mich nie verlässt.«