Vor ihm bewegte sich plötzlich etwas: Pater Domenico hatte die Hände nun nicht mehr am Rücken verschränkt und wandte sich von dem kleinen Fenster ab. Er machte ein paar vorsichtige Schritte auf Baines zu. Diese schwache menschliche Lebensäußerung schien Jack Ginsberg zu stören, der um sich schlug, eine noch unbequemere Stellung annahm, heiser aufschrie und dann zu schnarchen begann. Pater Domenico warf ihm einen Blick zu, blieb dann auf seiner Seite des Großen Kreises stehen und winkte.
»Ich?« fragte Baines.
Pater Domenico nickte geduldig. Baines legte das überforderte kleine Radio mit weniger Widerstreben beiseite, als er noch vor einer Stunde für möglich gehalten hätte. Mühselig wie ein Arthritiker stemmte er sich hoch: erst auf die Knie, dann stand er auf.
Als er auf den Mönch zuzustolpern begann, schoß etwas Pelziges ihm vor die Füße und brachte ihn beinahe zu Falclass="underline" Wares Kater. Er sauste auf den Altar zu und sprang mit einer Leichtigkeit, die man einem so fetten Wesen nie zugetraut hätte, hinauf. Dort ließ er sich dann auf dem Leib seines schlafenden Herrn und Gebieters behaglich nieder. Er sah Baines noch einmal mit grünen Augen an und schlief dann selbst ein — oder sah wenigstens so aus, als schliefe er.
Pater Domenico winkte Baines noch einmal und ging dann zum Fenster zurück. Baines hinkte ihm nach. Er wünschte, er hätte sich vorher die Schuhe ausgezogen. Jetzt fühlten sich seine Füße an, als wären sie zu massiven Blöcken Horn geworden.
»Was ist los?« flüsterte er.
»Sehen Sie einmal da hinaus, Mr. Baines.«
Immer noch verwirrt und am ganzen Leib schmerzend sah Baines an seinem weder eingeladenen noch eindrucksvollen Vergil vorbei. Erst konnte er nichts erkennen als die beschlagene und von herabrinnenden Kondenswassertropfen gestreifte Innenseite des Glases. Jenseits schienen dicke Schneeflocken zu fallen. Dann sah Baines allmählich, daß die Nacht draußen nicht völlig dunkel war. Irgendwie konnte er die Unterseite einer lebhaft bewegten Wolkendecke sehen. Das Fenster gestattete, ebenso wie das in Wares Büro, einen Blick den Steilhang hinunter und hinaus aufs Meer, doch letzteres war im Schneegestöber fast unsichtbar. Eigentlich hätte man auch die Stadt nicht erkennen können, doch war sie irgendwie schwach beleuchtet. Die Wolken oben wurden fast dauernd durch Strahlen schwachen Feuers erhellt, die wie phosphoreszierende Kondensstreifen aussahen. Sie hielten lange an und schienen mit dem Wetter nichts zu tun zu haben.
»Nun?« sagte Baines.
»Sehen Sie denn nichts?«
»Ich sehe diese Meteoritenspuren, oder was sie sein mögen. Und das Licht ist seltsam — Flächenblitze, nehme ich an, und vielleicht brennt es dort unten in der Stadt.«
»Sonst nichts?«
»Sonst nichts«, sagte Baines ärgerlich. »Was wollen Sie denn eigentlich von mir — wollen Sie mich erschrecken, damit ich Dr. Ware wecke und das Experiment abblase? Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Wir sehen uns das Ende an.«
»Gut«, sagte Pater Domenico und nahm seinen Wachposten wieder ein. Baines stapfte in seine Ecke zurück und nahm das Radio wieder auf. Er hörte:
». . . wird jetzt angenommen, daß der angebliche chinesische Wasserstoffbombentest in Wirklichkeit die Explosion einer Kernwaffe von mindestens dreißig Megatonnen direkt über Taiwan war. In den Hauptstädten westlicher Länder, die schon durch den Napalmmord an der Witwe des amerikanischen Präsidenten in einer Diskothek New Yorks in Aufruhr waren, rüstet man sich jetzt rasch für vollen Kriegszustand, und wir erwarten, daß jeden Augenblick einschneidende Nachrichtenbeschränkungen oder -sperren aus Sicherheitsgründen verhängt werden. Solange dies aber noch nicht der Fall ist, bringen wir Ihnen selbstverständlich alle wichtigen Nachrichten, die in unserem Studio eintreffen. Wir geben jetzt unser Sendezeichen . . . Uwuuh .. . lüg. Oh, piggly baby, I caught you — cheating on me — uwuuh . . .«
Baines drehte wütend am Einstellknopf, aber das Heulen wurde nur noch schlimmer. Nahe der Wand zu seiner Rechten krümmte Hess seinen langen Kadaver auf dem Refektoriumstisch, setzte sich plötzlich auf und ließ seine bestrumpften Füße zu Boden schwingen.
»Jesus Christus«, sagte er mit tiefer Stimme, »habe ich das jetzt wirklich gehört oder habe ich mir das nur eingebildet?«
»Sie haben es wirklich gehört«, sagte Baines still, ja sogar mit einer gewissen Freude. Aber er war gleichzeitig auch besorgt. »Rutschen Sie mal hier herüber und setzen Sie sich. Etwas braut sich jetzt da draußen zusammen, und es ist nicht das, was wir — oder auch Ware — erwartet haben.«
»Sollten wir dann der Sache nicht lieber Einhalt gebieten?«
»Nein. So setzen Sie sich doch, verdammt noch mal. Ich bin gar nicht sicher, daß wir jetzt noch Einhalt gebieten können — und selbst, wenn wir es könnten, so möchte ich unserem klerikalen Freund dort drüben die Befriedigung nicht gönnen.«
»Der dritte Weltkrieg ist Ihnen lieber?« sagte Hess und setzte sich gehorsam nieder.
»Ich weiß nicht, ob der kommt. Wir haben uns auf diese Sache eingelassen, wir haben sie bestellt. . . Warten wir’s ab. Entweder Ware hat die Sache in der Hand — oder er sollte sie wenigstens in der Hand haben. Schauen wir also, was dabei herauskommt.«
»Gut«, sagte Hess. Er begann, die Gelenke seiner langen Finger knacken zu lassen. Baines versuchte es wieder mit dem Radio, aber alles, was er herausbekam, war eine Mischung von Händels Messias, Gustav Mahler und The Supremes.
Jack Ginsberg jammerte in seinem Halbschlaf weinerlich vor sich hin. Nach einer Weile sagte Hess ganz ruhig:
»Baines?«
»Was ist los?«
»Was glauben Sie nun, daß aus der Sache wird?«
»Nun, entweder ist es der dritte Weltkrieg oder er ist es nicht. Wie sollten wir das in diesem Stadium schon wissen?«
»Das habe ich Sie eigentlich nicht gefragt. Ich wollte wissen, was für eine Sorte Ding das nun ist. Was glauben Sie? Sie müßten ja davon eine Ahnung haben, denn Sie haben sich das Ding ja bestellt.«
»Ach — ja, hm. — Pater Domenico sagte, es könne sehr wohl das jüngste Gericht sein. Ware hat das nicht geglaubt, aber bis jetzt hat er durchaus nicht immer recht gehabt. Ich selbst kann es nicht erraten. Ich habe noch nicht sehr lange in diesen Maßstäben gedacht.«
»Ich auch nicht.« Hess sah dem Spiel seiner Finger unbeteiligt zu. »Ich versuche immer noch, die Sache in herkömmlichen Begriffen zu analysieren — mit jenen Begriffen also, die für mich dem Universum seinen Sinn gaben. Es ist nicht ganz leicht. Aber Sie erinnern sich doch vielleicht noch daran, wie ich Ihnen sagte, mich interessiere die Geschichte der Wissenschaft. Das bringt es mit sich, daß ich mir darüber Gedanken gemacht habe, warum es so lange keine Wissenschaft gegeben hat, und warum sie, beinahe jedesmal, wenn sie wiederentdeckt wurde, zu irgendeiner Katastrophe geführt hat. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum. Es scheint mir, als durchliefe der Menschengeist eine Art Zyklus der Angst. Er kann nur ein begrenztes Maß angesammelten Wissens verarbeiten und verfällt, wenn diese Grenze überschritten wird, in Panik. Der Menschengeist beginnt dann Gründe dafür zu erfinden, warum alles Wissenschaftliche verworfen werden solle, und kehrt so ins finsterste Mittelalter zurück . . . jedesmal im Zeichen einer neuen, erfundenen mystischen Rechtfertigung.«
»Sehr klar ist mir das alles nicht, muß ich sagen«, entgegnete ihm Baines. Er versuchte immer noch, von seinem Radio etwas zu hören.
»Das habe ich mir auch eigentlich gar nicht erwartet. Aber so geschieht es eben — und zwar so ungefähr alle tausend Jahre. Die Menschen machen dann einen frischen Anfang. Sie sind mit ihren Göttern glücklich, obwohl sie sich vor ihnen gleichzeitig auch fürchten. Dann wird die Welt in zunehmendem Maße ›verweltlicht‹, alles drängt zum Irdischen hin, und die Götter verlieren an Bedeutung. Gotteshäuser und Tempel stehen verlassen da. Natürlich sind die Leute von Schuldgefühlen erfüllt, aber doch nicht genug für eine Um- und Einkehr. Dann aber haben sie plötzlich genug von Materialismus und Technologie; sie werfen ihre Holzschuhe in das Räderwerk der Maschine, sie beginnen Satan anzubeten oder die Große Erdmutter, sie verfallen in eine hellenistische Periode oder werfen sich dem Christentum in die Arme, in hoc signo vinces — ich habe natürlich jetzt die Chronologie durcheinandergeworfen, aber jedenfalls geschieht es, Baines, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks, so alle tausend Jahre. Das letzte Mal war es die chiliastische Panik vor der Jahrtausendwende, als alle die Wiedergeburt Christi erwarteten und ihnen bewußt wurde, daß sie ihm nicht gegenüberzutreten wagten. Das war das Herz, der Mittelpunkt, ja die ganze Erklärung für das finstere Mittelalter. Gut, nun also nähert sich ein weiteres Jahrtausend seinem Ende, und die Menschen haben Angst vor unserer Verweltlichung, vor unseren biologischen und Kernwaffen, vor unseren Elektronengehirnen, unserem übertriebenen medizinischen Fortschritt, kurz: vor allen -Segnungen des Fortschritts-, und sie wenden sich nun wieder der Anbetung der Unvernunft, des Alogischen zu . .. genauso, wie Sie es getan haben — und ich habe Ihnen dabei noch geholfen. Heutzutage beten manche Leute fliegende Untertassen an, einfach, weil sie nicht wagen, mit Christus konfrontiert zu werden. Sie haben sich der Schwarzen Magie zugewendet. Wo liegt da der Unterschied?«