Wolfgang Hohlbein
Der Hexer von Salem
© Copyright 1987 by Bastei-Verlag
Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
All rights reserved
Lektorat: Michael Schönenbröcher
Titelillustration: Les Edwards
Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg
Druck und Verarbeitung:
Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich
ISBN 3-404-13101-0
Printed in France
Coverrückseite
Wir schreiben das Jahr 1883. Vor der Küste Schottlands zerschellt ein Viermaster auf den tückischen Riffen. Nur wenige Menschen überleben die Katastrophe. Unter ihnen ein Mann, der die Schuld an dem Unglück trägt. Ein Mann, der gejagt wird von uralten, finsteren Göttern.
H.P. Lovecraft, einer der Urväter der phantastischen Literatur, schuf mit dem Cthulhu-Mythos ein Universum des Grauens, beherrscht von bösen Gottheiten, von lebenden Schatten und Büchern, in denen der Wahnsinn nistet.
Wolfgang Hohlbein, einer der bekanntesten und preisgekrönten Autoren moderner Phantastik, nahm sich mit seiner Reihe DER HEXER des Nachlasses Lovecrafts an und belebt den Cthulhu-Mythos neu.
Dieser Band enthält die ersten acht Abenteuer des Hexers. Eine in sich geschlossene Saga um einen Mann, der es wagt, den GROSSEN ALTEN zu trotzen - und einen schrecklichen Preis dafür bezahlen muß.
Inhalt
Erstes Buch - Als der Meister starb
Zweites Buch - Tyrann aus der Tiefe
Drittes Buch - Die Hexe von Salem
Viertes Buch - Das Haus am Ende der Zeit
Fünftes Buch - Im Schatten der Bestie
Sechstes Buch - Bücher, die der Satan schrieb
Siebtes Buch - Der Baumdämon
Achtes Buch - Tage des Wahnsinns
Erstes Buch - Als der Meister starb
Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Während der letzten beiden Stunden war Nebel aufgekommen, und im gleichen Maße, indem sich die grauen Schwaden zuerst zu wogenden Wolkengebilden und dann zu schweren, träge wie Rauch auf der Wasseroberfläche liegenden Bänken verdichtet hatten, hatte sich das Meer geglättet. Die Wellen waren flacher geworden, und das rhythmische dumpfe Klatschen, das die Fahrt der LADY OF THE MIST, der »Herrin des Nebels«, während der letzten vierunddreißig Tage wie ein monotoner Chor begleitet hatte, war leiser geworden und schließlich ganz verstummt.
Jetzt lag das Schiff ohne Fahrt auf der Stelle. Die großen, an vielen Stellen geflickten Segel hingen schlaff von den Rahen, und an Masten und Tauwerk sammelte sich Feuchtigkeit und lief in kleinen glitzernden Bahnen zu Boden. Es war still, eine unheimliche, an den Nerven zerrende Stille, die mit dem Nebel über das Meer herangekrochen war und den schnittigen Viermastsegler einhüllte. Und es war nicht einfach nur die Stille, sondern noch etwas anderes. Ein Gefühl - ich weiß, daß es sich verrückt anhört, aber genau das war es, was ich (und wohl auch viele von den anderen) damals empfanden -, als hätte der Nebel etwas Fremdes und Feindseliges mit sich herangetragen, das nun auf unsichtbaren Spinnenbeinen an Bord der LADY OF THE MIST kroch und sich in unsere Gedanken und Gefühle schlich.
Der Nebel hatte das Schiff erreicht und eingehüllt, und alles, was weiter als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, begann in der dunstigen Feuchtigkeit zu verschwimmen und an Substanz zu verlieren, als wäre es nicht real, sondern nur ein Bild aus einem Traum. Das Knarren und Ächzen des Holzes klang gedämpft, und die Stimmen der Mannschaft wehten wie durch einen dichten, unsichtbaren Schleier zu uns herauf. Das an einer Seite abgerundete Rechteck des Achterdecks erschien mir wie eine winzige, isolierte Insel in einem gewaltigen Ozean aus Grau und erstarrtem Schweigen.
Und es war kalt. Wir waren am 19. Juni des Jahres 1883 in New York losgesegelt, und wenn ich nicht irgendwo auf dem Atlantik die Übersicht verloren hatte, dann mußten wir jetzt den 24. Juli schreiben. Hochsommer, dachte ich. Trotzdem prickelten meine Hände vor Kälte, und mein Atem erschien als dünne Dampfwolke vor meinem Gesicht, wenn ich sprach.
»Warum gehen Sie nicht in die Kabine, Mister Craven?« Die Stimme des Kapitäns drang wie von weit her in meine Gedanken; ich hatte Mühe, sie überhaupt als menschliche Stimme zu erkennen und darauf zu reagieren.
»Es ist verdammt kalt hier«, fuhr Bannermann fort, als ich mich endlich zu ihm umwandte und ihn ansah. In seinem dicken schwarzen Mantel und der Pudelmütze, die er anstelle seiner Kapitänsmütze trug, wirkte er wie ein freundlicher Pinguin. Und irgendwie war er das wohl auch: ein kurzbeiniger, gemütlicher, stets lächelnder Mann, der viel zu sanft und nachsichtig war, um ein Schiff zu kommandieren. Ich hatte nie mit ihm gesprochen, aber ich hatte den sicheren Eindruck, daß er mehr durch Zufall auf diesen Posten verschlagen worden und nicht sehr glücklich damit war.
»Ich möchte lieber hierbleiben«, antwortete ich nach einer Weile. »Dieser Nebel bereitet mir Sorgen. Sind Sie sicher, daß wir nicht die Orientierung verlieren oder gegen ein Riff laufen?«
Bannermann lachte. Er hatte seinen Schal um das Gesicht geschlungen, und seine Stimme klang nur gedämpft durch die dicke Wolle. Trotzdem spürte ich, daß es ein gutmütiges Lachen war. Für Bannermann und seine Leute waren Montague und ich nichts als zwei Landratten, die Mühe hatten, bei einem Schiff Bug und Heck auseinanderzuhalten. Ich hatte den größten Teil der Reise in seiner Nähe verbracht, und wahrscheinlich war ich ihm gehörig auf die Nerven gefallen. Aber er gab sich wenigstens Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen.
»Wir sind fast dreißig Seemeilen von der nächsten Küste entfernt«, antwortete er. »Dieser Nebel gefällt mir auch nicht, aber er ist nicht gefährlich. Nur lästig.« Er seufzte, trat an mir vorbei an die Reling und blickte aus zusammengekniffenen Augen in die wogenden grauen Schwaden hinaus. »Äußerst lästig«, fügte er hinzu. »Aber mehr auch nicht.«
Ich schwieg. Es hätte tausend Fragen gegeben, die ich hätte stellen können, aber ich spürte, daß er nicht antworten würde, und so trat ich nur schweigend neben ihn und blickte wie er aufs Meer hinaus, nach Norden, wo unser Ziel lag. Es war etwas Beunruhigendes an diesem Nebel - wenn man lange genug hineinsah, begann man Gestalten zu erkennen: Gesichter und bizarre, seltsam verzerrte Körper, substanzlose Hände, die nach dem Schiff zu greifen schienen. Wäre dieser Nebel nicht gekommen, hätte die LADY OF THE MIST London fahrplanmäßig irgendwann während des nächsten Tages erreicht. Jetzt konnte es gut sein, daß wir eine weitere Nacht auf See verbringen mußten; vielleicht auch mehr, wenn der Nebel nicht wich.
Aber ich hütete mich, irgend etwas von diesen Gedanken auszusprechen. Bannermann hätte mich wahrscheinlich für verrückt erklärt.
»Wirklich, Mister Craven«, fuhr Bannermann fort, ohne mich dabei anzusehen. »Sie sollten unter Deck gehen. Sie können hier sowieso nichts tun - außer sich einen kräftigen Schnupfen einzufangen.« Er schwieg einen Moment und fuhr, leiser und mit deutlich veränderter Stimme, fort: »Und es wäre mir lieber, wenn jemand bei Mister Montague ist.« Er sah auf. Zwischen seinen buschigen grauen Brauen grub sich eine tiefe Falte ein. »Wie geht es ihm heute?«
Ich antwortete nicht sofort. Als ich Montague verlassen hatte - vor nahezu vier Stunden, noch vor Tagesanbruch -, hatte er geschlafen. Er schlief sehr viel, und obwohl sich sein Zustand nicht besserte, wirkte er in den wenigen Stunden, die er wach war und mit mir oder Bannermann reden konnte, überraschend klar und von scharfem Verstand. Es war etwas Seltsames an diesem Mann.