Ich bin Roderick Andara. Der Hexer.«
Der Ort glich einem brodelnden Hexenkessel. Die Schreie der Sterbenden, das Grölen der blutdürstigen Menge, Schüsse und Schritte, das Prasseln und Krachen der brennenden Häuser, das Schreien panikerfüllter Tiere und Menschen, alles vermengte sich zu einer Symphonie des Wahnsinns, einem grauenhaften Konzert des Todes, das den blutigen Orkan begleitete, der über Jerusalems Lot hinwegfegte. Nur hier, in der winzigen Hütte im Herzen des Dorfes, die wie durch Zauberei bisher als einziges Gebäude von den Tobenden verschont worden war, herrschte noch Schweigen. Der Lärm drang durch die dünnen Wände und Fenster, aber er wirkte unwirklich und konnte das Schweigen nicht brechen; nicht wirklich.
»Ich ... kann nicht mehr«, murmelte Lyssa. Die junge Frau hatte sich in den letzten Minuten auf schreckliche Weise verändert. Ihr Gesicht war eingefallen und grau, die Augen blind, erstarrte, weiße Kugeln, die von einer furchtbaren Gewalt geblendet worden waren, und ihr Haar war schlohweiß geworden. Ihr Körper verfiel zusehends. Das magische Feuer, das in ihrem Geist wütete, verbrannte in Minuten die Kraft, die ihn normalerweise noch Jahrzehnte am Leben gehalten hätten.
»Ich ertrage es nicht mehr«, keuchte sie. »Das Töten und das Morden ... all die Gewalt und ... den Schmerz ...«
»Halte durch, Kind«, wisperte die greise Alte neben ihr. Ihre Stimme klang beschwörend. »Laß sie töten! Es ist ihre Wut, die du fühlst. Es ist der Schmerz und der Zorn derer, die dort draußen sterben, und ihr Schmerz ist es, der ihn ernährt! Er braucht diese Kraft, wenn er unsere Rache vollziehen soll.«
Lyssa wimmerte. Ihre Hände krallten sich in das Holz der Tischplatte. Die Fingernägel brachen ab. Sie spürte es nicht einmal mehr. Ihr Geist war längst zerbrochen, und selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie die geistige Verbindung, zu der die Alte sie gezwungen hatte, nicht mehr lösen können. Sie war nur noch ein Werkzeug, das Tor, durch das die psychische Gewalt, die sich rings um sie herum austobte, hinüberfloß, das Jerusalems Lot mit einem Ort fast auf der anderen Seite der Welt verband.
Rings um sie herum erreichte das Chaos seinen Höhepunkt. Lyssa spürte, wie das Leben aus ihr wich.
Aber sie spürte auch, wie im gleichen Maße, in dem die unsichtbare Flamme in ihr schwächer brannte, Tausende von Meilen entfernt ein unbeschreibliches, unglaubliches Etwas stärker wurde ...
»Der Hexer!« Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach, aber es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich diese Gabe verfluchte. Ich hätte in diesem Moment alles darum gegeben, die Augen verschließen und seine letzten Worte einfach vergessen zu können. Randolph Montague, der Mann, der sich wie ein Vater um mich gekümmert hatte und den ich beinahe wie einen solchen liebte - der Hexer!
»Es tut mir leid, Robert«, sagte er leise. »Ich hätte es dir gerne auf andere Weise gesagt, später, nachdem du mich besser kennengelernt hättest. Aber nicht alles, was man über mich erzählt, ist wahr, das mußt du mir glauben.«
»Aber Sie ... Sie ...« Ich stockte, senkte verwirrt den Blick und suchte vergeblich nach Worten. Meine Gedanken drehten sich wirr im Kreis. Ich hatte von ihm gehört, so, wie man eben von einem Mann wie ihm hörte, und wenn auch nur ein Zehntel von dem stimmte, was man sich über den Meister der Schwarzen Magie erzählte, dann stand ich einem Teufel in Menschengestalt gegenüber. Andara war ein Verbrecher, ein Mann, dem man ein Dutzend Morde und eine Unzahl anderer Untaten vorgeworfen, aber niemals irgend etwas hatte beweisen können. Es hieß, daß er mit dem Teufel selbst im Bunde sei, und ich kenne eine ganze Menge Leute, die dies allen Ernstes behauptet haben.
»Sie ...«
»Ich habe dich nicht gerne belogen, Robert«, sagte er sanft. »Aber es mußte sein. Ich habe mächtige Feinde, Robert, und ich mußte meinen Namen ändern, um ihnen zu entkommen. Aber es hat nicht viel genutzt.«
»Dann sind Sie wirklich ... wirklich ein Hexer?« fragte ich mühsam.
Andara blickte mich einen Herzschlag lang ernst an, warf plötzlich den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen.
»Ich beherrsche eine Anzahl von Tricks, das stimmt«, sagte er amüsiert. »Und ich habe mein Leben damit verbracht, Dinge zu studieren, die den meisten anderen verborgen bleiben.«
»Aber all die Dinge, die man Ihnen vorwirft, die ...«
»Sprich es ruhig aus«, sagte er, als ich nicht weitersprach. »Die Verbrechen. Ich habe nichts davon getan, Junge, aber die Menschen haben Angst vor meinen Fähigkeiten. Sie haben Angst vor dem, was ich tue, und Angst und Haß sind nahe Verwandte. Sie betrachten alles als feindselig und böse, was sie nicht verstehen.« Er nickte betrübt. »Es hat lange gedauert, bis ich es begriffen habe, Robert, sehr lange. Aber es war überall das gleiche, wohin ich auch kam. Wenn sie meine Hilfe brauchten, haben sie mich geholt, aber nach einiger Zeit begannen sie mich zu fürchten, schließlich zu hassen. Wenn in einer Stadt, in der ich war, ein Kind starb, wenn eine Frau eine Mißgeburt hatte oder die Ernte vom Hagel vernichtet wurde, dann wiesen sie mit dem Finger auf mich und sagten: Das war der Hexer. Zu Anfang habe ich mich dagegen gewehrt, aber nach einer Weile habe ich es aufgegeben.« Er lachte, aber es klang bitter. »Ich hatte gehofft, in Europa meinen Frieden zu finden, aber es sieht so aus, als ob mir mein Fluch folgt, wohin ich auch gehe. Vielleicht kann man seinem Schicksal nicht davonlaufen.«
Jemand klopfte gegen die Tür. Montague - Andara! - zuckte erschrocken zusammen, verbarg mit einer raschen Bewegung die Kette mit dem goldenen Stern unter seinem Hemd, trat an mir vorbei und schob den Riegel zurück. Auf dem nur unzureichend erhellten Korridor stand ein Matrose. Mannings, wie ich nach wenigen Sekunden erkannte.
»Der ... der Captain schickt mich«, begann er unsicher. »Er möchte Sie sehen, Mister Montague.« Sein Blick wich dem Andaras aus. Er trat nervös auf der Stelle und schien nicht so recht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte.
»Er fragt, ob ... ob Sie zu ihm aufs Achterdeck hinaufkommen können.«
»Warum kommt er nicht hierher?« fragte ich, aber Andara winkte hastig ab.
»Laß nur, Robert«, sagte er. »Ich muß sowieso hinauf an Deck. Sei so gut und gib mir Mantel und Stock.«
Ich gehorchte, hängte ihm das dünne schwarze Cape über die Schultern und nahm den schlanken Spazierstock - unter dessen silbernem Knauf sich die Klinge des Degens verbarg, den ich selbst schon an der Kehle gefühlt hatte - aus dem Koffereinsatz. Ohne ein weiteres Wort folgten wir Mannings an Deck.
Bannermann erwartete uns bereits ungeduldig. Er hatte seinen schweren Wollmantel gegen eine schwarze Öljacke getauscht, die ihm zwar kaum Schutz vor der Kälte bot, in der er sich aber besser bewegen konnte. Ich sah, daß er eine Pistole im Gürtel stecken hatte. Und auch die Matrosen, die in kleinen Gruppen auf dem Deck herumstanden, leise miteinander redeten oder einfach verbissen in den Nebel hinausstarrten, waren bewaffnet - ein paar mit Gewehren, die meisten mit Messern oder Beilen, einige auch mit Enterhaken oder langen Belagnägeln. Trotz des Ernstes der Situation mußte ich ein Lächeln unterdrücken. Die Männer erinnerten mich an Kinder, die sich vorgenommen hatten, Pirat zu spielen.
Aber das Gefühl der Heiterkeit verflog sofort, als ich an Bannermann vorbei sah und den Nebel erblickte. Obwohl ich es nicht mehr für möglich gehalten hatte, war er noch dichter geworden, und die Stille, die ihn begleitete, hatte jetzt etwas Erstickendes.
»Montague«, begann Bannermann übergangslos. »Ich muß mit Ihnen reden.« Zwischen seinen Brauen entstand eine Falte, als wir uns ihm näherten, und er sah, wie gesund und kräftig der Mann, um dessen Leben er und ich noch vor wenigen Stunden gezittert hatten, plötzlich war. Aber er verlor kein einziges Wort darüber. »Sie wissen mehr, als Sie bisher zugegeben haben«, behauptete er plötzlich. »Sie wissen, was den Mann getötet hat, nicht?«