Andara sah ihn ernst an, drehte sich halb um und blickte aus zusammengekniffenen Augen über das Deck zu der herausgebissenen Stelle, die im Nebel nur noch ein großer, finsterer Schatten war.
»Ja«, antwortete er nach sekundenlangem Zögern. »Jedenfalls fürchte ich es. Aber ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären«, fügte er hinzu, bevor Bannermann Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. »Ich wäre so oder so zu Ihnen gekommen, Captain. Wir müssen hier verschwinden. Das Schiff muß sofort Fahrt aufnehmen. Was gerade passiert ist, war nur der Anfang, Bannermann. Dieses Ding wird weiter töten, wenn wir hierbleiben.«
»Aber ich kann es nicht!« begehrte Bannermann auf. Sein Zorn hatte etwas Hilfloses, und für einen Moment tat er mir leid. Ich wußte, wie schwer es war, sich gegen Andara durchsetzen zu wollen. »Ich weiß nicht, was dieser verdammte Nebel zu bedeuten hat, und wenn ich ehrlich sein soll, dann beginne ich allmählich wieder an den Klabautermann zu glauben, aber das Schiff kann sich nicht bewegen, Montague!«
»Dann müssen wir rudern.«
Bannermann stieß einen komisch klingenden Laut aus. »Rudern? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß auch nur einer meiner Männer einen Fuß in eines der Boote setzen wird, solange dieses Monster dort draußen ist? Sie haben doch gesehen, was mit Gordon passiert ist!«
»Ich werde sie schützen«, sagte Andara. »Ich weiß, daß es gefährlich ist, aber wir haben keine andere Wahl. Keiner Ihrer Männer wird London lebend erreichen, wenn wir das Schiff nicht von der Stelle bewegen können.«
»Wissen Sie, wieviel die LADY wiegt?« fragte Bannermann. Seine Stimme zitterte. »Es ist so gut wie unmöglich, ein Schiff dieser Größe mit nur vier Booten zu schleppen. Und die Männer werden sich weigern. Sie haben Angst, Montague!«
Andara schwieg einen Moment, aber der innere Zweikampf, der sich hinter seiner Stirn abspielte, war deutlich in seinem Gesicht zu lesen.
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, murmelte er schließlich. »Aber vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit. Lassen Sie die Boote bereitmachen, Captain. Und schicken Sie Ihre Männer in die Rahen.« Er lächelte dünn. »Es kann sein, daß wir bald Wind bekommen.«
Bannermann starrte ihn verdutzt an, aber Andara gab ihm keine Gelegenheit, irgend etwas zu sagen. Er fuhr herum, eilte mit weit ausgreifenden, federnden Schritten die Treppe zum Achterdeck hinauf und blieb zwei Schritte vor der hinteren Reling stehen. Bannermann blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Was ist mit ihm?« flüsterte er. »Ist er verrückt geworden?«
»Das wohl am allerwenigsten«, antwortete ich. »Sie sollten tun, was er sagt, Captain. Ich glaube, wenn uns noch jemand hier herausholen kann, dann er.«
Bannermanns Blick nach zu urteilen, begann er nun auch an meinem Verstand ernsthaft zu zweifeln. Trotzdem drehte er sich nach sekundenlangem Zögern um und begann, die Matrosen mit erhobener Stimme hin und her zu scheuchen. Von einer Sekunde auf die andere breitete sich eine hektische, nervöse Aktivität auf dem Deck aus. Männer kletterten geschickt wie Affen die Masten hinauf und begannen, ihre Plätze in den Rahen einzunehmen, andere liefen zu den Booten, zerrten die Schutzplanen herab und begannen, die Ketten der Davids straff zu ziehen. Wieder andere standen scheinbar untätig herum, starrten in den Nebel und fingerten nervös an ihren Waffen. Es waren die Männer mit den Gewehren, die nicht arbeiteten, und ich begriff, daß Bannermann alle Vorbereitungen getroffen hatte, das Ungeheuer würdig zu empfangen, sollte es noch einmal angreifen. Aber irgend etwas sagte mir, daß Gewehrkugeln und Äxte nicht viel nützen würden.
Mein Blick glitt zum Achterdeck und suchte Andara. Der Hexenmeister war wenige Schritte vor der Reling stehengeblieben und zur Reglosigkeit erstarrt. Seine Hände waren erhoben und wiesen in einer erstarrten, beinahe beschwörend wirkenden Geste in den Nebel hinaus.
»Was tut er?« flüsterte Bannermann.
Ich winkte hastig ab und sah weiter konzentriert zum Achterdeck hinauf. Andara rührte sich nicht, aber ich spürte einfach, daß irgend etwas dort oben vorging. Etwas, das nicht mit normalen menschlichen Sinnen wahrzunehmen war.
Und dann begann sich der Nebel zu bewegen.
Zuerst langsam und fast unmerklich, dann immer schneller trieben die grauen Schwaden auseinander. Die lichtschluckende Mauer, die die LADY OF THE MIST gefangen hielt, riß auf, und zum ersten Mal seit Stunden berührte das Licht der Sonne wieder das Deck. Die Kälte verschwand wie ein böser Spuk, und plötzlich spürte ich den kühlen Hauch des Windes auf der Haut.
Bannermann keuchte überrascht. Aber er reagierte so schnell, wie man es von einem guten Kapitän erwarten konnte. »Segel setzen!« brüllte er. »Steuermann - Kurs zwei Strich Backbord!«
Ein tiefes, mahlendes Geräusch lief durch den Rumpf des Viermastseglers. Ich spürte, wie die LADY unter meinen Füßen wie aus einem tiefen, betäubenden Schlaf erwachte, als der Wind zunahm und sich die Segel an den Rahen strafften. Der Hauptmast ächzte hörbar unter dem Druck, der plötzlich auf ihm lastete und den er an den Schiffsrumpf weitergeben mußte. Der Nebel trieb weiter auseinander, zerfaserte zu dünnen Streifen und löste sich mit phantastischer Geschwindigkeit auf. Eine Welle schlug klatschend gegen den Rumpf und zerstob zu weißer Gischt, dann eine zweite, dritte ...
»Bannermann!« Andaras Stimme drang wie von weither in meine Gedanken. »Die Boote! Schnell! Der Wind wird nicht lange anhalten!«
Ein seltsames Gefühl von Schwäche überkam mich. Das Schiff begann vor meinen Augen zu verschwimmen, und meine Beine schienen mit einemmal nicht mehr in der Lage, das Gewicht meines Körpers zu tragen. Ich wankte, griff haltsuchend nach dem Mast, verfehlte ihn und wäre gestürzt, wenn Bannermann nicht gedankenschnell zugegriffen und mich aufgefangen hätte.
»Craven!« keuchte er. »Was ist mit Ihnen?«
Ich schüttelte schwach den Kopf, befreite mich aus seinen Armen und lehnte mich gegen den Mast. Mein Herz jagte, als wäre ich meilenweit gelaufen, und obwohl ich noch immer vor Kälte zitterte, brach mir am ganzen Leib der Schweiß aus.
»Es ist ... nichts«, sagte ich mühsam. »Ein Schwächeanfall, mehr nicht. Es geht schon wieder.« In Wirklichkeit fühlte ich mich sterbenselend. Hätte ich mich nicht an den Mast lehnen können, wäre ich abermals gestürzt.
»Robert! Geh in das Boot! Schnell!« Es fiel mir schwer, Andaras Worten zu folgen. Das Schiff bewegte sich noch immer vor meinen Augen, als betrachtete ich es durch fließendes Wasser, und das Klatschen der Wellen hallte seltsam verzerrt in meinen Ohren wider. Trotzdem stemmte ich mich gehorsam hoch, drehte mich herum und wankte auf eines der Rettungsboote zu.
Die Matrosen saßen bereits an ihren Plätzen, sechs Mann in jedem Boot, viel zu wenige, um die LADY nennenswert von der Stelle bewegen zu können, aber alles, was Bannermann entbehren konnte. Die Davids bewegten sich quietschend; eines der Boote löste sich aus seiner Halterung, schwebte, von vier armdicken, rostigen Ketten gehalten, eine Handbreit über die Reling und senkte sich langsam auf die Wasseroberfläche herab.
Es erreichte sie nie.
Das Meer barst in einer plötzlichen Explosion aus Wasser und weißer, schaumiger Gischt auseinander. Etwas Großes, ungeheuer Großes und Massiges wuchs wie ein schwarzgrüner Berg neben dem Schiff empor, bäumte sich mit einem gewaltigen Urschrei auf und versank wieder im Meer. Das Schiff bebte. Eine drei Meter hohe Flutwelle traf seine Flanke wie einen Hammerschlag, spülte brüllend über die Reling und riß die Matrosen von den Füßen. Auch ich strauchelte, schlug schmerzhaft irgendwo mit dem Hinterkopf auf und griff blindlings um mich. Für einen Moment drohte ich das Bewußtsein zu verlieren. Eine unsichtbare Riesenfaust packte mich, preßte mich mit gnadenloser Kraft gegen das Deck und trieb mir die Luft aus den Lungen. Ich versuchte zu schreien, bekam den Mund voll Wasser und schluckte instinktiv. Die LADY OF THE MIST stöhnte wie unter Schmerzen. Irgendwo splitterte Holz, und durch den blutigen Schleier vor meinen Augen sah ich, wie das Boot, das bereits außerhalb des Schiffes an seinen Ketten hing, mit gnadenloser Kraft angehoben und gegen die Reling geschmettert wurde. Das armdicke Holz zersplitterte wie ein Span. Die Männer im Inneren des Bootes wurden wie Spielzeugfiguren durcheinandergeschleudert; einer schrie auf, ruderte hilflos mit den Armen und kippte in einer grotesk langsamen Bewegung über Bord. Mit einem lautlosen Schrei versank er in den kochenden Fluten, um nie wieder aufzutauchen.