Das erste, was ich fühlte, als ich wieder zu mir kam, war ein unangenehmes Stoßen und Rütteln und der eisige Biß des Windes. Ein stechender Schmerz saß in meiner rechten Schläfe. Ich hob die Hand, fühlte klebriges, kaum geronnenes Blut und stöhnte auf. Erst dann öffnete ich die Augen.
Ich saß vorne auf dem Kutschbock, wie ein schlafendes Kind an Miß Windens Schulter gelehnt. Der Wagen fuhr mit scharfem Tempo in die Dunkelheit hinein, und den Stößen und Schlägen nach zu urteilen, die sich über die ungefederten Achsen auf den Wagen übertrugen, mußte sich die Straße noch erheblich verschlechtert haben. Mühsam setzte ich mich auf, tastete noch einmal nach der Platzwunde an meiner Schläfe und verzog das Gesicht. Das Stechen wuchs zu einem quälenden Kopfschmerz heran.
Howard, der mit Miß Winden den Platz getauscht hatte, wandte kurz den Blick und konzentrierte sich dann wieder darauf, den Wagen über die ausgefahrene Straße zu lenken. »Alles in Ordnung?«
Ich wollte nicken, aber allein der Gedanke daran steigerte das Pochen hinter meiner Stirn zu blanker Raserei, und so beließ ich es bei einem - wenn auch etwas gequältem - Lächeln. Der Wagen sprang und hüpfte wie ein Boot auf stürmischer See. Rechts und links des Weges waren dunkle Schatten wie Mauern, die den Weg säumten, und das Geräusch des Regens hatte sich verändert. »Was ist... passiert?«
»Wir haben Pech gehabt«, sagte Howard, ohne mich dabei anzusehen. »Der Bursche, der dich niedergeschlagen hat, ist entkommen. Ich fürchte, wir werden bald Gesellschaft haben.«
Ich erschrak. »Er ist entkommen?« wiederholte ich ungläubig. »Er ist -«
»Ich wollte ihn aufhalten, aber ich war nicht schnell genug. Ich fürchte, er ist jetzt schon fast wieder in der Stadt.«
»Aber wie konnte das geschehen?« fragte ich aufgebracht. »Du hattest deinen Revolver!«
»Sollte ich ihn vielleicht erschießen?« fragte Howard wütend.
Einen Moment lang starrte ich ihn betreten an, dann senkte ich verlegen den Blick und sah weg. »Und ... der andere?«
Statt einer Antwort wies Howard mit dem Daumen nach hinten. Ich verdrehte mir halbwegs den Hals, um über die Schulter ins Wageninnere zurückblicken zu können. Rowlf lag noch immer reglos auf seinem Platz, aber auch die andere Bank war jetzt nicht mehr leer. Eine Gestalt in einem schwarzen Ölmantel lag darauf, an Händen und Füßen gebunden und mit einem zusammengedrehten Taschentuch geknebelt.
»Wohin fahren wir?« fragte ich.
»Nach Bettyhill«, antwortete Miß Winden an Howards Stelle. »Ich habe dort Freunde, die Sie verstecken werden, keine Sorge.«
»Aber sie holen uns ein, ehe wir die halbe Strecke geschafft haben!« widersprach ich.
»Vielleicht«, sagte sie. »Vielleicht auch nicht. Wir fahren den direkten Weg, durch den Wald. Wenn wir Glück haben und der Wagen nicht steckenbleibt, schaffen wir es. Die Dunkelheit schützt uns. Und es gibt Dutzende von Wegen, die durch den Wald führen. Sie können sie nicht alle absuchen.«
»Und wenn wir steckenbleiben?«
»Dann gehen wir zu Fuß weiter«, knurrte Howard. Seine Stimme hörte sich gereizt an. Er war nervös und hatte Angst, und ich spürte, daß es besser war, jetzt nicht weiterzureden. So drehte ich mich wieder herum, versuchte, auf der harten, schmalen Holzbank in eine einigermaßen bequeme Stellung zu rutschen, und starrte in die Dunkelheit rechts und links des Weges. Viel gab es allerdings nicht zu sehen: Der Weg war kaum breit genug, dem zweispännigen Gefährt Platz zu bieten, und die Blätter und Zweige des Unterholzes wuchsen beiderseits so dicht an die Fahrspur heran, daß ich nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um sie zu berühren, und die tiefhängenden Äste der Bäume zwangen uns immer wieder dazu, die Köpfe einzuziehen, um uns nicht die Gesichter von Zweigen und Blattwerk zerkratzen zu lassen. Einen Moment lang lauschte ich auf das Geräusch der Hufe und Räder, und was ich hörte, gefiel mir nicht. Es war zu dunkel, um den Boden, über den wir fuhren, zu sehen, aber ich hörte deutlich, wie sich die Räder durch mindestens knöcheltiefen Matsch quälten. Die Hufschläge der Pferde klangen gedämpft und feucht, und wenn sie die Beine hoben, gab es kleine, saugende Laute. Selbst wenn wir nicht in irgendeinem jäh aufklaffenden Schlammloch steckenblieben, würden die Tiere bald erschöpft sein.
Schweigend fuhren wir weiter. Der Regen ließ ein wenig nach, und auch die Kälte war hier im Wald weniger quälend und unerträglich. Trotzdem zitterten wir alle am ganzen Leib, und die Dunkelheit und die formlosen schwarzen Schatten, zu denen sich Bäume und Gebüsch beiderseits des Weges zusammenballten, erfüllten mich mit einem vagen Gefühl von Furcht, das ich mir nicht erklären konnte. Ich ertappte mich immer öfter dabei, über die Schulter zurückzublicken, als erwartete ich, die Verfolger bereits hinter uns auftauchen zu sehen.
»Glaubst du wirklich, daß sie uns verfolgen werden?« fragte ich.
Howard nickte trübsinnig. »Darauf kannst du Gift nehmen, Robert«, sagte er. »Vielleicht hätten sie es nicht getan, wenn das Feuer nicht gewesen wäre. Aber so ...« Er schüttelte den Kopf, hielt die Zügel für einen Moment mit nur einer Hand und versuchte, sich mit der anderen eine Zigarre anzuzünden. Ich sah ihm einen Moment lang dabei zu, dann riß ich ein Streichholz an und hielt es unter das Ende seines Glimmstengels. Er nickte und blies mir zum Dank eine blaugraue, stinkende Qualmwolke ins Gesicht.
»Fahren Sie etwas langsamer«, sagte Miß Winden. »Es ist nicht mehr weit bis zur Abzweigung nach Bettyhill.«
Die Abzweigung nach Bettyhill ... Verdammt, irgendwo hatte ich diese Worte schon gehört, aber ich konnte mich einfach nicht erinnern, wo und in welchem Zusammenhang.
Howard verlangsamte das Tempo der Pferde und starrte aus eng zusammengepreßten Augen in die Dunkelheit hinein. Der Wagen begann stärker zu schlingern, und ein paarmal krachten die Räder so hart in Löcher und Erdspalten, daß ich Angst hatte, sie würden zerbrechen. Aber sie hielten wie durch ein Wunder.
Plötzlich zog Howard an den Zügeln, so heftig, daß sich eines der Pferde erschrocken aufbäumte und der Wagen wie unter einem Schlag erbebte.
»Was ist los?« fragte ich erschrocken.
Statt einer Antwort deutete Howard in die Dunkelheit. Ich starrte angestrengt in die Richtung, in die seine Hand wies, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. »Ich sehe nichts«, sagte ich.
Howard nickte. »Eben.«
Im ersten Moment verstand ich nicht. Aber dann ...
Vor uns war Dunkelheit, nichts als rabenschwarze, massive Dunkelheit. Keine Schatten mehr. Kein Unterholz mehr, keine Äste, keine Ranken und Zweige, nicht einmal mehr die riefhängenden Äste der Bäume, die uns bisher in die Gesichter gepeitscht hatten.
»Mein Gott, was ist das?« entfuhr es Miß Winden. Howard biß sich nachdenklich auf die Unterlippe, zuckte mit den Achseln und reichte ihr die Zügel. »Ich werde nachsehen«, sagte er. »Sie bleiben hier.«
Er stieg vom Wagen und wartete, bis ich ihm gefolgt war. Die Stille fiel mir auf. Der Regen prasselte weiter monoton auf das Blätterdach hoch über unseren Köpfen, aber sonst war es vollkommen still; selbst für eine verregnete Nacht im dichten Wald zu still, wie ich fand. Aber vielleicht war ich auch nur überreizt. Nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, war es eigentlich kein Wunder, wenn ich anfing, Gespenster zu sehen.
Ich verfluchte den Umstand, daß wir keine Lampe bei uns hatten, während ich langsam neben Howard herging. Die Pferde waren noch nervöser geworden und stampften unruhig im Schlamm.