Nach ein paar Schritten blieb Howard abermals stehen und deutete stumm nach vorne. Trotz des praktisch nicht vorhandenen Lichtes sah ich, was er meinte.
Vor uns, nur wenige Schritte rechts des Weges, erhob sich eine Gruppe von drei Bäumen, die durch eine Laune der Natur so dicht nebeneinander gewachsen waren, daß sich allenfalls ein besonders schlankes Kind zwischen ihren Stämmen hätte hindurchzwängen können. Ihre Äste waren so dicht ineinander verwachsen, daß sie wie eine einzige, gewaltige Krone wirkten - von einer Höhe von ungefähr acht Yard aufwärts, hieß das.
Darunter waren sie kahl. Vollkommen kahl.
»Zum Teufel, was bedeutet das?« murmelte ich. Ohne auf Howard zu warten, ging ich los. Meine Schritte erzeugten patschende Geräusche auf dem Boden. Ich spürte, wie ich bis über die Knöchel im Morast versank, und als ich den Blick senkte, sah ich, daß es praktisch keinen Unterschied mehr zwischen dem Weg und dem Waldboden gab. Die Linie, an der die ausgefahrene Spur endete und der eigentliche Wald begann, war verschwunden. Es gab nicht nur kein Unterholz mehr, sondern nur noch nacktes braunes Erdreich, bar allen heruntergefallenen Zweigen und Blattwerk und Holz und den tausend anderen Dingen, die normalerweise den Waldboden bedeckten und die Schritte dämpften.
»Schau dir die Bäume an«, murmelte Howard. Seine Stimme bebte. Er war neben mich getreten und hatte die Hand nach einem der Stämme ausgestreckt, ihn aber nicht berührt.
Ein eisiger Schauer lief über meinen Rücken, als ich die Baumstämme aus nächster Nähe erblickte. Sie waren glatt. Vollkommen glatt. Bis in eine Höhe von sieben oder acht Yard waren Äste und Rinde verschwunden, und jemand - oder etwas - hatte das Holz darunter so gründlich glattgeschliffen, daß es glänzte. Zögernd streckte ich die Hand aus und berührte einen der Stämme mit den Fingerspitzen. Er fühlte sich an, als wäre er poliert worden.
»Mein Gott, was ist das?« murmelte ich. Mein Blick suchte andere Bäume, Büsche, Äste - irgend etwas Natürliches, Lebendes, aber ich sah nichts außer den blankpolierten Stämmen der Bäume, die sich wie die Stützpfeiler einer Kathedrale rings um uns erhoben.
Nicht nur diese drei Bäume waren kahl. Nachdem wir den ersten Schrecken überwunden hatten, untersuchten wir die nähere Umgebung, und es stellte sich rasch heraus, daß - was immer diese Verheerung angerichtet hatte - es einen regelrechten Tunnel durch den Wald gefressen hatte, einen schnurgeraden, in der Mitte acht Yard hohen, halbkreisförmigen Tunnel von gut zwanzig Yards Durchmesser, der von Nord nach Süd verlief und sich in beiden Richtungen in der Dunkelheit verlor. Und nirgendwo war auch nur das geringste Anzeichen von Leben irgendwelcher Art zu sehen. Nicht einmal alle Bäume waren stehengeblieben, wie die großen Lücken im Blätterdach bewiesen, und als sich meine Augen an das schwache Sternenlicht, das auf die künstlich geschaffene Lichtung fiel, gewöhnt hatten, bot sich mir ein bizarrer Anblick: Hier und da war eine Baumkrone im Blätterdach des Waldes hängengeblieben, gehalten von den benachbarten Zweigen, die sich in ihr Geäst verkrallt hatten; der Stamm war unterhalb der imaginären Linie von acht Yard Höhe verschwunden. Andere wiederum boten sich uns als kaum armdicke Pfeiler dar und wuchsen oberhalb der Vernichtungslinie zu mannsstarken Stämmen heran. Es war ein fast absurdes Bild. Und ein Bild, das mich mit einer ungeheuren Furcht erfüllte.
»Was ist hier geschehen?« flüsterte ich entsetzt. »Mein Gott, Howard - welche Macht kann so etwas anrichten?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Howard. Seine Stimme klang flach und gepreßt und so, als beherrsche er sich nur noch mit äußerster Mühe. »Ich weiß nur, daß ich dem, der dafür verantwortlich ist, nicht über den Weg laufen möchte.« Er seufzte, ließ sich in die Hocke sinken und grub im Boden. Als er die Hand hob, floß das feuchte Erdreich wie dunkelbrauner Schleim durch seine Finger.
»Tot«, murmelte er. »Die Erde ist tot, Robert. Hier lebt nichts mehr. Absolut nichts.«
»Doch«, widersprach ich leise. »Etwas lebt noch, Howard. Das Ding, das für das hier verantwortlich ist.« Howard blickte mich einen Moment lang aus schreckgeweiteten Augen an, dann stand er auf, rieb sich die Hand an der Hose trocken und blickte nach Norden. »Es ist zum Meer hin gekrochen.«
»Oder daraus gekommen.«
Er antwortete nicht, aber wahrscheinlich dachten wir in diesem Moment ohnehin an das gleiche. Er hatte das Bild so deutlich gesehen wie ich: die monströsen, verzerrten Schatten, die aus dem Dimensionsriß gequollen waren wie eiteriger, schwarzer Ausfluß aus einer Wunde und im Meer verschwunden waren ...
»Gehen wir«, sagte er plötzlich. »Wir müssen hier weg, so schnell wie möglich.«
Ohne ein weiteres Wort eilten wir zum Wagen zurück. Miß Winden erwartete uns mit neugierigen Blicken und fragendem Gesichtsausdruck, aber seltsamerweise schwieg sie, als weder Howard noch ich Anstalten machten, irgendein Wort der Erklärung abzugeben, und ließ die Pferde wortlos wieder antraben. Aber ich spürte ihre Angst, als wir die künstlich geschaffene Lichtung überquerten und auf der anderen Seite wieder in den Wald eindrangen.
Die Tiere wurden immer unruhiger, und nach einer Weile nahm ihr Howard schweigend die Zügel wieder ab. Aber selbst er schaffte es kaum, die Pferde ruhig zu halten, und er mußte immer öfter die Peitsche zu Hilfe nehmen, damit sie überhaupt weitergingen.
Und nach weiteren zehn Minuten endete unsere Fahrt. Der Wagen sprang über einen Stein, rollte noch ein Stück vorwärts und versank im Matsch. Es war ganz undramatisch: Ich spürte, wie die Räder tiefer und tiefer sanken und plötzlich keinen Grund mehr faßten, dann gab es ein saugendes, irgendwie feucht klingendes Geräusch, und der Wagen hing bis über die Achsen in einem Schlammloch. So fest, als wäre er einbetoniert.
Howard knallte wütend mit der Peitsche, bis ich sie ihm, abnahm und gleichzeitig seine Hand herunterdrückte, die die Zügel hielt. »Das hat keinen Sinn mehr, Howard«, sagte ich, »Wir sitzen fest.«
Einen Moment lang starrte er mich so wütend an, als wäre ich an unserem Unglück schuld, dann zuckte er mit den Achseln, warf die Peitsche mit einem ärgerlichen Schnauben von sich und ballte die Faust. »Verdammt, das hat uns gerade noch gefehlt. Es wäre ja auch zu schön, wenn wir ausnahmsweise einmal Glück hätten«, grollte er. »Von jetzt an dürfen wir laufen.«
»Nicht ganz.« Ich deutete auf die beiden Zugtiere. »Rowlf und Miß Winden können reiten.« Ich versuchte zu lächeln. »Wenigstens müssen wir sie nicht tragen.«
Meine Bemerkung schien Howards Laune eher noch zu verschlechtern. Er stand auf, machte Anstalten, vom Wagen zu springen, dachte dann aber wohl im letzten Moment daran, daß der Wagen in einem Matschloch steckte, in dem er bis über die Hüften versinken würde. Mit einem ärgerlichen Knurren drehte er sich herum, kletterte steifbeinig zwischen mir und Miß Winden hindurch und beugte sich erst über Rowlf, dann über unseren Gefangenen.
»Sie brauchen nicht so zu tun, als wären Sie noch bewußtlos«, knurrte er. »Es sei denn, Sie möchten, daß wir Sie hier zurücklassen.«
Die Worte zeigten augenblicklich Wirkung. Der Mann öffnete die Augen und versuchte sich aufzusetzen, aber Howard stieß ihn unsanft auf die harte Bank zurück. Sein Verhalten verwirrte mich. Ich hatte Howard immer als sehr kultivierten (wenn auch manchmal etwas chaotischen) Menschen gekannt; unhöflich oder gar grob war er in meiner Gegenwart noch nie geworden.
»Ich nehme Ihnen jetzt den Knebel ab, und danach die Fußfesseln«, sagte er. »Aber vorher möchte ich, daß Sie mir genau zuhören. Ich habe einen Revolver in der Jackentasche, genau wie mein junger Freund dort vorne. Und wenn Sie auch nur den geringsten Versuch machen, zu fliehen oder zu schreien oder uns sonstwie irgendwelchen Ärger zu bereiten, dann bekommen Sie eine Kugel ins Bein und können liegenbleiben, bis Sie von Ihren Freunden gefunden werden. Haben Sie das verstanden?«