Jetzt war es ein Killer.
Das Haus stand am Rande einer kleinen, sauber wie mit einem Zirkel gezogenen Lichtung, und hätte McMudock mich nicht mit einer Geste darauf aufmerksam gemacht, dann wären wir vermutlich in wenigen Schritten Abstand daran vorübergelaufen, ohne es überhaupt zu bemerken. Eigentlich war es nur noch eine Ruine. Ein Teil des Daches war eingesunken, als wären die Balken aufgeweicht und hätten nicht mehr die nötige Stabilität, das Gewicht der zerborstenen Schindeln zu tragen, und die meisten Fenster waren nicht mehr als schwarze Löcher, aus denen das Glas schon lange verschwunden war. Und trotzdem erschien mir die verfallene Ruine in diesem Augenblick wie ein Stück des Paradieses. Wenigstens würden wir ein Dach über dem Kopf haben; und eine Wand zwischen uns und dem eisigen Wind.
»Auf der Rückseite ist ein Schuppen«, sagte McMudock, als wir vor dem Haus angehalten und Rowlf vorsichtig vom Rücken des Pferdes gehoben hatten. »Sie können die Pferde dort unterstellen.« Er blickte zum Wald hinüber. »Machen Sie die Tür sorgfältig zu«, sagte er. »Die Biester hauen uns sonst glatt ab. Ich möchte nur wissen, was sie so nervös macht.«
Ich sah, wie Howard bei diesen Worten wie unter einem Hieb zusammenfuhr, zog es aber vor, so zu tun, als hätte ich nichts bemerkt. McMudock eilte voraus, während wir Rowlf ächzend zum Haus trugen. Ich hörte ihn die Tür öffnen und eine Weile im Dunkeln hantieren, dann glomm drinnen ein blasses gelbes Licht auf. »Ich wußte doch, daß hier drinnen noch irgendwo eine Lampe steht«, drang seine Stimme aus dem Haus. »Passen Sie an der Tür auf. Auf dem Boden liegt allerhand Zeug.«
Allerhand Zeug war ziemlich untertrieben. Die Tür führte nicht in einen Korridor, sondern direkt in einen überraschend weitläufigen Raum, von dessen Rückseite aus eine Treppe und zwei schräg in den Angeln hängende Türen weiter ins Innere des Gebäudes führten, und der Boden war derartig mit Gerümpel und Trümmern übersät, daß man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, ohne auf irgend etwas zu treten oder zu stolpern. McMudock schwenkte triumphierend eine rußende Öllampe, deutete auf ein dreibeiniges, mit grauen Lumpen bedecktes Bett an einer der Wände und sah mit einem schadenfrohen Grinsen zu, wie Howard und ich Rowlf hinübertrugen und gleichzeitig irgendwie das Kunststück fertigbrachten, uns nicht in dem Gewirr aus zertrümmerten Möbelstücken, Ästen und von der Decke gestürzten Balken die Hälse zu brechen.
Howard eilte noch einmal hinaus, um Miß Winden dabei zu helfen, die Pferde in den Stall zu bringen, während ich mich darum bemühte, Rowlf in eine einigermaßen bequeme Lage zu betten und mit den Fetzen, die ich fand, zuzudecken.
McMudock sah mir eine Weile wortlos dabei zu, dann trat er neben mich, zog die Lumpen, mit denen ich Rowlf zugedeckt hatte, mit einem mißbilligenden Kopfschütteln beiseite und begann seine Jacke aufzuknöpfen. »Er muß erst einmal aus den nassen Klamotten heraus«, sagte er tadelnd. »Sonst holt er sich eine Lungenentzündung. Wenn er sie nicht schon hat.«
Gemeinsam zogen wir Rowlf aus. McMudock befahl mir, alles an Stoff zu holen, was ich auftreiben konnte, und ich fing an, den Raum zu durchstöbern. Ich fand ein paar zerrissene, halb von Motten und Moder aufgefressene Decken und einen ganzen Haufen undefinierbarer grauer Fetzen, deren bloßer Geruch schon genügte, mir Übelkeit zu bereiten. Alles war klamm und kalt, aber wenigstens nicht so triefend naß wie Rowlfs eigene Kleider. Ich gab alles McMudock, und er begann, Rowlf beinahe fachmännisch darin einzuwickeln. Als er fertig war, sah er beinahe aus wie eine Mumie, und der Modergestank war unerträglich geworden.
»Schön ist das nicht«, murmelte McMudock. »Aber es muß genügen. Ihr Freund ist ein kräftiger Bursche. Wenn ihn das Fieber nicht umbringt, dann schafft er es.«
»Sind Sie Arzt oder so was?« fragte ich.
McMudock lachte meckernd. »Arzt?« wiederholte er. »Ich? Um Gottes willen. Aber wenn man schon viermal ein Messer zwischen den Rippen gehabt hat, dann kriegt man ein bißchen Erfahrung in solchen Sachen, weißt du?« Er wurde übergangslos ernst. »Tut mir leid, was deinem Freund passiert ist, Junge«, sagte er. »Ich weiß auch nicht, was in die Leute gefahren ist.«
Ich winkte ab. »Schon gut«, sagte ich. »Sie konnten nichts dafür, Lon. Waren Sie dabei?«
»Am Hafen?« Er starrte mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er mir seine Mutter verkaufen wolle. »Nein. Aber ich habe gehört, was passiert ist.«
»Es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn Sie dabei gewesen wären«, sagte eine Stimme von der Tür aus. Ich blickte auf und erkannte Howard und Miß Winden. Sie waren hereingekommen, ohne daß ich es bemerkt hatte. Howard schloß die Tür - so gut es ging -, hob die Hände an den Mund und blies hinein.
»Wirklich nicht«, fuhr er fort, während er näher kam. »Die Leute waren nicht für das verantwortlich, was sie getan haben.« Er kam näher, begutachtete McMudocks Werk mit einem kritischen Blick und seufzte. »Und ich fürchte, es ist noch nicht vorbei«, murmelte er. Aber diese Worte waren nicht mehr für McMudock bestimmt; nicht einmal für mich.
Trotzdem antwortete McMudock darauf. »Ich weiß nicht einmal, was genau passiert ist«, sagte er. »Die ganze Stadt scheint übergeschnappt zu sein. All diese komischen Sachen ...« Er stockte, schwieg einen Moment und sah Howard plötzlich durchdringend an. »Es tut mir leid«, sagte er.
Howard lächelte. »Ich glaube Ihnen, Lon«, sagte er. »Es wird vielen Leuten in Durness leid tun, wenn sie aufwachen und begreifen, was geschehen ist.«
»Wenn sie es begreifen«, sagte McMudock. »Verdammt, was ist überhaupt passiert? Vor ein paar Tagen war noch alles in Ordnung, und dann ...«
»Und dann tauchen wir in der Stadt auf, und plötzlich geschehen die seltsamsten Dinge, nicht?« führte Howard den Satz zu Ende. »Tote erscheinen, Gestalten tauchen mit dem Nebel auf und verschwinden wieder, Glocken, die gar nicht da sind, läuten ...« Er lächelte bitter. »Es hat Tote gegeben, Lon. Können Sie es Ihren Leuten verübeln, daß sie einen Sündenbock gesucht haben?« Er seufzte, blickte einen Moment an McMudock vorbei ins Leere und wechselte abrupt das Thema. »Ich glaube, für den Moment sind wir in Sicherheit«, sagte er. »Aber es ist kalt. Gibt es eine Möglichkeit, Feuer zu machen?«
McMudock nickte, drehte sich herum und deutete auf einen gemauerten Kamin an der Südseite. Der Stein war geschwärzt, und auf seinem Boden lag ein fast kniehoher Haufen feiner grauer Asche. »Kein Problem«, sagte er. »Das Ding funktioniert noch, und Holz ist genug da.«
»Er funktioniert noch?« fragte Howard zweifelnd.
McMudock stand auf. »Ja«, sagte er. »Die Bude ist zwar ein Trümmerhaufen, aber von Zeit zu Zeit kommt doch noch jemand her.« Er lachte. »Ein paar von den Jungs aus der Stadt schlafen hier, wenn sie Krach mit ihrer Alten haben, wissen Sie?«
Ein paar von den Jungs aus der Stadt ...
Es war, als würde eine wispernde Stimme in meinem Inneren seine Worte wiederholen. Aber sie bekamen eine neue, schreckliche Bedeutung. Ein eisiger Schauer durchfuhr mich.
... den Jungs aus der Stadt, wiederholte ich seine Worte in Gedanken ... gleich an der Kreuzung nach Bettyhill, hatte Miß Winden gesagt.
»Howard«, keuchte ich. »Das ist das Haus.« Plötzlich begannen meine Hände zu zittern.
Howard sah auf und runzelte verwirrt die Stirn. »Welches Haus?« fragte er betont.
»Gordon«, antwortete ich mühsam. »Erinnere dich an Gordons Worte, Howard. Als du ihn gefragt hast, woher sie das Buch haben. Er hat gesagt, sie wären einer Spur gefolgt, einer Spur in den Wald, und sie hätten -«