Zögernd und immer noch von einem Gefühl tiefsten Abscheus und Ekels erfüllt, näherte ich mich noch einmal dem Schreibtisch und betrachtete das bizarre Wesen im ruhigen gelben Licht der Lampe. Selbst jetzt, wo ich wußte, daß es tot und ungefährlich war, ließ mich der Anblick erschauern. Es war wie eine bizarre Karikatur auf das Leben.
»Woran mag er gestorben sein?« flüsterte ich, fast, als hätte ich Angst, die Bestie durch zu lautes Sprechen aus ihrem Schlaf zu wecken.
»Er hat seine Aufgabe erfüllt«, antwortete Howard, »Das war alles. Er sollte dafür sorgen, daß das Buch in Tremayns Hände geriet, und das hat er getan. Danach gab es keine Verwendung mehr für ihn.«
Ich sah ihn überrascht an. »Du meinst, sie sterben von selbst, wenn ihre Aufgabe erfüllt ist?« fragte ich.
»Soweit ich weiß«, schränkte Howard ein. »Und ich weiß sehr wenig über sie. Niemand weiß wirklich, was diese Wesen sind, Robert.« Er seufzte. »Laß uns hinuntergehen. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, Rowlf mit McMudock unten allein zu lassen.«
Diesmal war ich es, der ihn zurückhielt. »Was tun wir mit ihm?« fragte ich.
»Mit McMudock?« Howard zuckte mit den Achseln. »Was sollen wir schon tun? Wir lassen ihn laufen, sobald wir in Sicherheit sind. Warum fragst du?«
»Wegen Miß Winden«, antwortete ich. »Sie wird nicht wieder nach Durness zurück können. Die bringen sie um, wenn bekannt wird, daß sie uns geholfen hat.« Ich senkte den Blick und starrte einen Moment lang zu Boden. »Ich mache mir Vorwürfe, Howard«, fuhr ich fort. »Ich hätte sie nicht zwingen dürfen, uns zu helfen. Selbst wenn sie ihr nichts antun, wird sie in der Stadt nicht mehr leben können. Sie würden ihr ständig mißtrauen.«
»Ich weiß«, antwortete Howard. »Es war mir klar, als ich sah, daß du in ihrer Begleitung zurückkamst. Und sie weiß es auch. Aber wir werden eine Lösung finden, irgendwie. Jetzt warten wir erst einmal auf den Tag und bringen Rowlf zu einem Arzt, und dann sehen wir weiter. Komm.«
Er wandte sich um und ging, so schnell, daß ich keine Gelegenheit fand, noch weitere Fragen zu stellen. Der Lichtschein seiner Laterne verschwand hinter der Tür und begann mit kleinen, ruckhaften Bewegungen die Treppe hinunterzuhüpfen. Ich blickte noch einmal zu der gräßlichen Kreatur hinter dem Schreibtisch zurück, dann wandte auch ich mich um und folgte ihm.
Als wir ins Erdgeschoß zurückkehrten, brannte im Kamin bereits ein Feuer, und Miß Winden und McMudock hatten Rowlfs Liege dicht ans Feuer herangetragen. McMudock stand an einem der Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, während Miß Winden auf den Knien neben Rowlf hockte und mit einem feuchten Tuch seine Stirn kühlte. Howard stellte seine Lampe auf den Kaminsims, rieb einen Moment die Hände über dem flackernden Feuer aneinander, um die Kälte daraus zu vertreiben und ging dann zu McMudock hinüber. Ich selbst blieb stehen und sah Miß Winden zu, bis sie meinen Blick fühlte und aufsah.
»Es geht ihm schon besser«, sagte sie. »Er ist sehr stark. Er wird durchkommen.«
Ich nickte, setzte mich ihr gegenüber auf die andere Kante des Bettes und betrachtete eine Zeitlang Rowlfs Gesicht. Er hatte das Bewußtsein wieder verloren, aber das hohe Fieber schien gebrochen zu sein.
»Miß Winden, ich ... ich muß mit Ihnen reden«, begann ich nach einer Weile. Sie blickte mich an, sagte aber nichts, und nach ein paar Sekunden fuhr ich fort: »Als ich gestern abend zu Ihnen kam, da ... da wußte ich nicht, daß ...«
»Es ist gut, Mister Craven«, unterbrach sie mich. »Sie haben das Leben meiner Tochter gerettet. Was ich getan habe, war ich Ihnen und Ihren Freunden schuldig.«
»Sie werden Durness verlassen müssen, wenn das alles hier vorbei ist«, sagte ich.
Sie lächelte. »Wegen Lon?« fragte sie, so leise, daß McMudock die Worte nicht verstehen konnte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Craven. Er wird mich nicht verraten. Er ist im Grunde ein guter Kerl. Er glaubt Ihnen.«
»Es geht nicht um ihn«, widersprach ich. »Aber der andere ist entkommen, und ...«
»Brennan?« Sie nickte. Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Er ist ein übler Kerl, Mister Craven -«
»Robert«, unterbrach ich sie. »Nennen Sie mich Robert - bitte.«
»Robert.« Sie lächelte. »Gut. Ich bin Mary. Miß Winden hört sich so alt an, finde ich.« Sie seufzte, legte das Tuch, mit dem sie bisher Rowlfs Stirn gekühlt hatte, aus der Hand und wurde übergangslos wieder ernst. »Brennan ist ein Mistkerl, Robert«, sagte sie. »Aber ich werde mit ihm fertig. Ich werde ihnen einfach erzählen, Sie hätten mich gezwungen, mit Ihnen zu gehen.«
Die Worte klangen nicht sehr überzeugend, und ich spürte, daß sie im Grunde ganz genau wußte, daß es nicht klappen würde. Aber aus irgendeinem Grund widersprach ich ihr nicht, sondern stand wortlos auf und ging zu Howard und McMudock hinüber, die noch immer am Fenster standen und in die Dunkelheit hinausblickten.
»Gibt es irgend etwas Besonderes?« fragte ich.
Howard wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Es hat aufgehört zu regnen, aber irgend etwas stimmt nicht.«
Stirnrunzelnd trat ich dichter ans Fenster heran und blickte durch einen Spalt in den Brettern, mit denen es vernagelt worden war, nach draußen. Im ersten Moment fiel mir nichts Besonderes auf. Der Regen hatte aufgehört, wie Howard gesagt hatte, und der Wald lag am Rande der Lichtung schwarz und reglos wie eine Mauer aus Finsternis. Aber er hatte recht. Irgend etwas stimmte nicht. Es war keine Gefahr, die man sehen oder hören konnte. Aber ich spürte sie. Überdeutlich.
»Dieses Ding da oben«, sagte McMudock plötzlich. »War das dasselbe, das den Wald kahlgefressen hat?«
Howard sah ihn überrascht an. »Das haben Sie gemerkt?«
»Halten Sie mich für blind oder nur für dämlich?« fragte McMudock ungerührt. »Natürlich habe ich es gemerkt. War es dasselbe?«
»Ich ... ich hoffe es«, antwortete Howard stockend. »Wenn nicht...«
»Dann läuft noch eines von den Biestern frei herum und bringt vielleicht Leute um, wenn es nicht gerade einen Baum findet, wie?« fragte McMudock. »Vielleicht ist es sogar dort draußen und wartet nur darauf, daß wir rauskommen.« Er trat ein Stück vom Fenster zurück und blickte Howard und mich feindselig an. »Ich verlange, daß Sie mir die Wahrheit sagen«, sagte er. »Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, Ihnen zu helfen, aber ich will wissen, womit wir es zu tun haben. Was ist das für ein Ding? Irgendsoein verrücktes Zeug von euch Wissenschaftlern?«
»Sie haben mit Mary gesprochen«, stellte Howard fest.
McMudock nickte zornig. »Und? Verdammt, es ist auch unser Leben, das hier auf dem Spiel steht. Was ist das für ein Ding? Wie kann man es bekämpfen?«
»Ich wollte, ich wüßte es«, antwortete Howard. »Ich ...«
Draußen am Waldrand fiel ein Schuß. Eine halbe Sekunde später zersplitterte das Holz vor dem Fenster, und Howard kippte mit einem röchelnden Laut nach hinten, die Hände um den Hals geklammert. Zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor.
Das DING hatte während der letzten Stunde aufgehört zu pulsieren. Das Netz, das den Waldboden durchzog, war ruhig geworden, zur Reglosigkeit erstarrt und scheinbar tot. Einmal hatte die Gier, die so zur Natur dieses Wesens gehörte wie das Bedürfnis nach Licht und Luft zu der des Menschen, seine eigentliche Bestimmung übermannt: es hatte gefressen, einen Teil des verhaßten Lebens, das es in seinem Machtbereich spürte, absorbiert und in widernatürliches, schwarzes Protoplasma verwandelt. Aber sein eigentlicher Auftrag behielt die Oberhand. Es wartete. Es fieberte vor Gier und Ungeduld, wußte die Opfer, die zu vernichten es bestimmt war, schon in Reichweite, aber noch beherrschte es sich, wenn auch mit Mühe. Es wartete, bis alles so war, wie es seine Schöpfer vorausbestimmt und gewollt hatten, wartete mit der Geduld eines Wesens, dem selbst der Begriff Zeit fremd war. Dann schlug es zu.