»Ist ja gut«, murmelte ich und hielt seine Hand fest. »Ich bin wach. Du brauchst mich nicht wieder bewußtlos zu prügeln. Was ist passiert?«
»Außer, daß du vor Angst in Ohnmacht gefallen bist, nichts«, antwortete Howard lächelnd. »Bist du okay?«
Ich vermochte die Frage nicht gleich zu beantworten. Hinter meiner Stirn schien sich ein großes, finsteres Mühlrad zu drehen, und meine Schultern und Arme schmerzten, aber ich nickte vorsichtshalber erst einmal, setzte mich auf und sah mich um.
Die tote Baumkreatur lag wenige Schritte neben mir, und sie war jetzt wirklich nicht mehr als ein Stück lebloses Holz. Der dämonische Zauber, der sie beseelt hatte, war von ihr gewichen. Ich konnte nicht lange bewußtlos gewesen sein. Da und dort glommen noch immer Funken in der bizarren Karikatur eines menschlichen Körpers, und Rowlf und zwei von den Männern aus Durness waren noch dabei, die kleinen Brandherde auszutreten, die die Spur des Unheimlichen markierten.
»Was ist passiert?« fragte ich noch einmal.
Diesmal verzichtete Howard darauf, mit einem dummen Witz zu antworten, sondern half mir beim Aufstehen, zuckte mit den Achseln und stieß den erstarrten Körper mit der Fußspitze an. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er. »Ich stand hinter dir und ... ihm, als es geschah. Ich hatte gehofft, du wüßtest es.«
Enttäuscht starrte ich ihn an, aber alles, was ich in seinem Blick las, war Ratlosigkeit. »Ich kann es genausowenig erklären wie du«, antwortete ich. »Ich dachte schon, es wäre aus, und plötzlich ...« Ich stockte. Während ich die Worte sprach, schien die fürchterliche Szene noch einmal vor meinem inneren Auge abzulaufen, in jeder schrecklichen Einzelheit. Ich sah noch einmal, wie der Dämon wie eine lebende Fackel auf mich zustürmte, wie ich stürzte und dabei den Toten mit mir riß, wie ...
»Der Shoggotel« sagte ich. »Er ... er hat den toten Shoggoten berührt, Howard. Das muß es sein. Er starb im gleichen Moment, in dem er ihn berührte!«
Howard starrte mich einen Moment zweifelnd an, dann fuhr er herum, fiel auf die Knie und wälzte den Holzdämon mühsam auf den Rücken.
»Dort!« Ich deutete auf seine Hand. Sie war in der gleichen Haltung erstarrt, in der er zugeschlagen hatte - die Finger zu einer fünfzackigen Klaue gespreizt. Und an seinen Nägeln klebten noch winzige Fetzen der grauen Protoplasmamasse, in die sie sich gegraben hatten. Ich wollte die Hand danach ausstrecken, aber Howard schlug meinen Arm mit einer erschrockenen Bewegung zur Seite.
»Nicht berühren!« keuchte er.
Ich zog die Hand so hastig zurück, als hätte ich sie mir verbrannt. Es war nicht das erste Mal, daß Howard mich warnte, den toten Shoggoten zu berühren. Aber ich kam auch diesmal nicht dazu, ihn nach dem Grund seiner Warnung zu fragen.
Denn in diesem Moment erscholl aus dem Erdgeschoß ein markerschütternder Schrei!
»Mary!« keuchte ich. »Das ist...«
Howard sprang auf, ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte. Der Schrei wiederholte sich nicht, aber dafür ertönte jetzt aus dem Erdgeschoß ein fürchterliches Kratzen und Schaben, ein Geräusch, als scharrten Millionen chitingepanzerter, harter Insektenbeine über Holz und Erdreich, und als ich auf die Treppe zustürzte, glaubte ich, das Haus unter meinen Füßen wie unter einem Hieb vibrieren zu fühlen.
Dicht hinter Howard und Rowlf stürzte ich die Treppe herab - und erstarrte!
Es war vollends hell geworden, und im goldglänzenden Licht der Morgensonne war das furchtbare Geschehen in aller Deutlichkeit zu erkennen.
Durch die Tür, die zerborstenen Fenster, ja, selbst durch winzige Risse und Löcher in den Außenwänden des Hauses quoll eine schwarze, pulsierende Masse herein. Das Wurzelgeflecht, das aus dem Boden gequollen war und das Haus umzingelt hatte! Aber es bewegte sich jetzt nicht mehr nur scheinbar, sondern kroch mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Boden, fast so schnell, wie ein Mensch laufen konnte, und es wuchs dabei unaufhörlich. Aus der knöcheltiefen Schicht, die ich draußen vor dem Haus gesehen hatte, war eine halbmeterhohe schwarze Woge geworden, eine Masse so dicht ineinander verfilzter Strünke und Wurzelfäden, daß sie fast wie eine kompakte Mauer wirkte. Lange, peitschende Tentakel aus zahllosen, regelrecht miteinander verflochtenen Wurzeln wuchsen aus der schwarzen Masse empor und tasteten wie Fühler hierhin und dorthin, und der Vormarsch der Pflanzen-mörder war von einem fürchterlichen Geräusch begleitet, mit dem es Möbelstücke und Holztrümmer an sich riß und verschlang. Von meinem erhöhten Standpunkt aus betrachtet, sah es aus, als fülle sich der große Raum unter uns rasch mit einer schwarzen, zähen Flüssigkeit.
»Miß Winden! Laufen Sie!« rief Howard mit überschnappender Stimme. Sein Schrei riß mich aus meiner Erstarrung. Ich sah, wie die dunkelhaarige Frau ein verzweifeltes Wettrennen mit der heranrasenden Wurzelmasse lief, dicht gefolgt von einem der Männer aus Durness, der bei ihr zurückgeblieben war.
Miß Winden schaffte es, aber ihr Begleiter war nicht schnell genug. Einen halben Schritt hinter ihr erreichte er die unterste Stufe der Treppe, aber im gleichen Moment, in dem er sich nach vorne warf, um der Gefahr zu entgehen, zuckte einer der schwarzen Wurzelarme vor, ringelte sich wie der Fangarm eines Oktopus um sein Handgelenk und riß ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zurück. Er fand nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Der schwarze Teppich schloß sich wie eine Flutwelle über ihm und raste weiter.
Rowlf und McMudock begannen zu schießen, während Miß Winden verzweifelt die Treppe herauftaumelte, aber ihre Schrotladungen klatschten harmlos in die hölzerne Woge, ohne auch nur die geringste Wirkung zu zeigen. Das Haus erbebte, und ich glaubte ein tiefes, fast schmerzhaftes Stöhnen zu hören, das direkt aus den Dachbalken zu kommen schien.
»Die Treppe!« schrie Howard. »Schlagt sie ein!«
McMudock schleuderte sein Gewehr davon, bückte sich nach seiner Axt und begann mit aller Gewalt auf die morsche Holztreppe einzuschlagen. Sekunden später ließ auch Rowlf seine Waffe fallen und tat es ihm gleich. Die morschen Holzstufen gaben schon unter den ersten Hieben nach. Die ganze, seit einem Jahrzehnt baufällige Konstruktion wankte, begann zu zittern wie ein waidwundes Tier - und brach mit einem donnernden Krachen zusammen.
Keine Sekunde zu früh. Die ersten Ausläufer der schwarzen Wurzelmasse hatten bereits die obersten Stufen erreicht, und eine der dünnen Ranken wickelte sich um Rowlfs Bein und hielt es fest, als die Treppe zusammenbrach und die Hauptmasse mit sich in die Tiefe riß. Rowlf schrie auf und warf sich zurück, aber nicht einmal seine gewaltigen Kräfte reichten, dem Zug der kaum fingerdicken Liane zu widerstehen. Er fiel, versuchte sich mit den Händen in den Bodenbrettern festzukrallen und begann vor Angst und Entsetzen zu schreien, als er langsam, aber unbarmherzig, auf die Tür zugezerrt wurde.
McMudock wirbelte herum, schwang seine Axt und trennte den Strang mit einem wuchtigen Hieb durch. Das abgetrennte Ende fuhr mit einem peitschenden Knall zurück, aber der Teil, der Rowlfs Bein umklammerte, schien fast über eine Art Eigenleben zu verfügen und zog sich wie eine würgende Schlange enger und enger zusammen. Rowlf stöhnte, versuchte auf die Beine zu kommen und brach mit einem wimmernden Laut wieder zusammen. Vergeblich zerrten seine Hände an der dünnen Liane, die sein Bein abzuquetschen begann.
»Reißt es ab!« schrie er. »Reißt es doch ab! Mein Bein!«
McMudock packte mit beiden Händen zu, aber nicht einmal ihren vereinten Kräften gelang es, den Strang herabzureißen. Rowlfs Stöhnen wurde lauter. Sein Gesicht lief rot an, und auf dem Stoff seiner Hose erschienen dunkle Flecken. »Schneidet es ab!« schrie er. »Um Gottes willen, Howard, schneid es ab! Es bringt mich um!«
Howard stieß McMudock grob beiseite und kniete neben Rowlf nieder. In seiner Hand blitzte ein langes, zweischneidiges Messer. Mein Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als ich sah, wie er die Spitze auf dem dünnen Strang ansetzte.