Das Bitter hatte einen scharfen Nebengeschmack und war so dünn wie Regenwasser. Trotzdem stürzte es Sean in zwei, drei kräftigen Schlucken herunter und schob das Glas anschließend quer über die Theke. Der Wirt füllte es schweigend.
»Auf der Durchreise, Sir?«
»Ich bleibe über Nacht hier«, antwortete Sean in betont gelangweilter Art und ohne den Mann anzusehen. »Man hat mir gesagt, daß ich in der Pension auf der anderen Seite des Waldes eine Bleibe finde.«
»Glaube ich kaum. Sie meinen doch bestimmt die Anstalt von Mr. Baltimore. Wäre mir neu, wenn der jetzt auch noch an Reisende Zimmer vermietet.«
»Anstalt?« Sean nippte an seinem Bier und sah den Wirt mit einer perfekt schauspielerischen Mischung zwischen Desinteresse und einer gelinden Spur von Neugier über den Rand des Glases hinweg an. »Davon weiß ich nichts. Man hat mir nur gesagt, daß ich dort für ein paar Tage unterkommen könnte.«
Der Wirt musterte Sean schweigend und stützte sich dann mit beiden Armen auf die Theke. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie das Haus jenseits des Waldes meinen? Das Haus von Mr. Baltimore?«
»Baltimore.« Sean runzelte die Stirn und stierte einen Moment vor sich hin, als überlege er. »Hm ... Glaube nicht, daß ich den Namen schon mal gehört habe. Sie wissen ja, wie das ist. Irgendein Bursche war schon mal in der Gegend, in die man muß, und empfiehlt eine Bleibe.«
»Irgendein Bursche«, wiederholte der Wirt nachdenklich.
Obwohl er sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, spürte Sean sein wachsendes Mißtrauen. »Sie scheinen viel herumzukommen, Sir.«
»Nun, in dem Nest, in dem ich aufgewachsen bin, hat mich wirklich nichts gehalten.« Sean lachte rauh und bemühte sich, in seiner Stimme eine Spur von Bitterkeit mitklingen zu lassen. »Ich bin sogar ein paar Jahre zur See gefahren. Fast hätte ich es bis Kap Horn geschafft, aber dann passierte diese schreckliche Sache.«
Die Augen des Wirts verengten sich. »Was für eine schreckliche Sache?«
Sean wußte, daß er vorsichtig sein mußte, aber irgendwann war einmal ein Punkt erreicht, von dem man mit Vorsicht nicht mehr weiterkam. In dieser Gegend fiel er nicht allein durch seine Körpergröße auf. Er konnte sicher sein, daß man bereits begonnen hatte, über das »Wer« und »Woher« des breitschultrigen Fremden nachzudenken.
Die Blicke der beiden Kartenspieler, die an einem Tisch hinter ihm saßen, konnte er direkt fühlen. Sie waren nicht unbedingt freundlich. Es war an der Zeit, die Gerüchte und Vermutungen in die richtige Bahn zu lenken.
Er lächelte unbestimmt und nippte wieder an dem Bier. »Es ist nicht die Art von Geschichten, die man gern erzählt«, behauptete er. »Außerdem wurde der Untergang der BERMUDA damals in allen Zeitungen breitgetreten.«
Der Wirt nickte verständnisvoll, füllte ein Bierglas und kippte den Inhalt in einem Zug herunter.
»Geschichten wie die kenne ich zur Genüge«, sagte er. »Was meinen Sie, was sich hier alles abspielt. Tragödien, sage ich Ihnen, Tragödien, da hatte Shakespeare seine wahre Freude dran gehabt.« Plötzlich grinste er. »Aber nur die Hälfte davon ist wahr.«
»Ach, ja?« fragte Sean, seinen letzten Satz bewußt ignorierend. »Das sollte man gar nicht für möglich halten. Hier sieht doch alles so friedlich aus.«
»Finden Sie? Da sieht man, wie man sich täuschen kann.« Er beugte sich etwas vor und blinzelte Sean verschwörerisch zu. »Ich an Ihrer Stelle wäre etwas vorsichtiger mit der Wahl meiner Bleibe. Haben Sie wirklich noch nie von Mr. Baltimores Anstalt gehört?«
Sean schüttelte den Kopf und gab sich Mühe, ein möglichst gelangweiltes Gesicht zu machen. Es gelang ihm nicht ganz, aber der Wirt merkte gottlob nichts davon.
»Man erzählt sich so manches«, fuhr der Wirt fort. »Nicht unbedingt Dinge, die in die Zeitung gehören. Aber fest steht, daß dort nicht alles mit den rechten Dingen zugeht.«
»Tatsächlich?« Sean brauchte seine Überraschung nicht zu heucheln. Er hatte nicht erwartet, daß er so schnell vorankommen würde. Bisher war er auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, gleichgültig, wonach er gefragt hatte.
»Wie merkwürdig, daß man mir ausgerechnet dieses Haus empfohlen hat«, fuhr er fort. »Aber dann sieht man mal wieder, wie wenig man auf die Ratschläge von Fremden geben sollte.«
»Da haben Sie allerdings recht, Sir«, pflichtete ihm der Wirt bei. Einen Moment blickte er Sean an, und in seinen Augen blitzte eine Mischung aus Mißtrauen und stärker werdender Neugier. Die Neugier gewann.
»Und wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte«, fügte er mit einem raschen, listigen Lächeln hinzu. »Bleiben Sie doch einfach hier. Wir haben unter dem Dach noch ein Zimmer frei. Gar nicht teuer.«
Sean nickte zögernd. »Das ist... sehr freundlich. Da ist... nur noch eine Kleinigkeit.«
Er schloß die Hand fest um das Bierglas und warf einen Blick in die Runde. Die alten Männer hatten eine Pause gemacht und unterhielten sich leise. Es war nicht schwer zu erraten, worum sich ihr Gespräch drehte.
»Ruhiger Abend«, bemerkte Sean.
»Ganz recht, Sir. In der Woche ist hier nie viel los. Die meisten hier können es sich nicht leisten, unter der Woche in den Pub zu kommen. Es ist nicht viel Geld in der Gegend.«
Der Wirt beugte sich noch ein Stück vor. Das Feuer hinter ihm knackte und warf bizarre Schatten auf die gegenüberliegende Wand. »Wollten Sie mir nicht noch etwas sagen, Sir?«
Sean zuckte zusammen, hielt dem Blick des anderen einen Moment stand, lächelte dann verlegen. »Ich ... weiß nicht. Nach allem, was Sie bisher angedeutet haben, möchte ich zwar nicht unbedingt mit diesem Mr. Baltimore Bekanntschaft machen, aber ich fürchte, es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich habe mich für morgen früh mit jemandem dort verabredet.«
»Wenn das so ist.« Der Wirt zuckte mit den Achseln und zog sich ein Stück zurück.
Sean glaubte fast, einen Fehler gemacht zu haben, aber der Wirt goß sich nur sein Glas voll und lehnte sich dann wieder über die Theke. Sein Gesichtsausdruck wirkte noch immer verschlossen, aber in seinen Augen glomm ein sonderbares Feuer.
»Sie glauben mir wohl nicht, was?« fragte er provozierend. »Sie meinen wohl, ich wollte Ihnen unbedingt ein Zimmer aufschwatzen?«
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Sean eine Spur zu schnell. »Es ist nur ...«
Der Wirt winkte mit einer großzügigen Geste ab. »Vergessen Sie es. Sie müssen selber wissen, was Sie tun, junger Mann.«
»Aber dieses Haus ...« Sean versuchte, so etwas wie ein nervöses Zittern in seiner Stimme mitklingen zu lassen. »Was ist denn damit los?« Er lächelte, und er tat es absichtlich nervös. »Wenn ich schon dahin muß ... Sie verstehen?«
»Tja«, brummte der Wirt.
Er warf einen Blick in die Runde, als wolle er sich vergewissern, daß ihnen niemand zuhörte. Wahrscheinlich tat ihm seine Redseligkeit bereits wieder leid, aber offensichtlich wollte er auch vor dem Fremden nicht das Gesicht verlieren.
»Es kehren merkwürdige Leute dort ein. Nicht als Pensionsgäste, sondern ... was weiß ich.« Er richtete sich zur vollen Größe auf und warf Sean einen mißtrauischen Blick zu.
»Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle«, fügte er hinzu, als müsse er sich vor sich selbst rechtfertigen.
»Was für Leute?« fragte Sean ungerührt.
Der Wirt sah ihn gleichmütig an. »Nur Leute, Sir. Fremde. Londoner. Man kriegt sie höchstens mal bei der Durchreise zu Gesicht.«
Er starrte auf das leere Glas, das Sean auf die Theke zurückgestellt hatte.
Sean nickte ihm zu und bat um erneute Füllung. Während er das Bier zapfte, fuhr der Wirt fort: »Nicht einmal in der Kirche lassen sie sich blicken. Wenn Sie mich fragen: Es ist Gesindel, gottloses Gesindel, das man schon längst zum Teufel hätte jagen sollen.«