»Barton!« schrie Bannermann verzweifelt. »Hör auf, oder ich muß auf dich schießen!«
Barton erstarrte. Sein Blick suchte den des Kapitäns, und trotz der großen Entfernung konnte ich das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen sehen. Bannermann hob das Gewehr.
»Tun Sie es nicht, Captain!« schrie Andara. »Er weiß nicht, was er tut!«
Bannermann reagierte nicht. Sein Gesicht war leichenblaß, als er die Waffe entsicherte und Barton anvisierte. »Ich meine es ernst, Barton!« rief er. »Laß die Axt fallen, oder ich drücke ab!«
Bartons Antwort bestand in einem neuerlichen, unartikulierten Schrei. Blitzschnell riß er die Axt hoch, beugte sich noch weiter vor - und schlug zu.
Mannings' Schrei wurde vom peitschenden Knall des Schusses verschluckt. Der Matrose fiel, aber auch Barton stürzte, von der Wucht des Schusses herumgerissen wie von einem Faustschlag.
Ich wandte hastig den Blick, als Mannings und sein Mörder auf dem Deck aufschlugen. Für einen Moment wurde mir übel.
Andara ließ meine Hand los, machte einen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Gesicht zuckte. Aber es war nicht das Entsetzen über das, was geschehen war, sondern etwas anderes, Schlimmeres, Bannermann rannte neben ihm die Treppe herab, schleuderte sein Gewehr mit einer zornigen Geste von sich und eilte an uns vorüber. Der Blick, mit dem er Andara bedachte, sprühte vor Haß.
Von überall her begannen die Matrosen zusammenzulaufen, und am Fuße des Hauptmastes bildete sich rasch eine immer größer werdende Menschenmenge, Auch ich wollte hinter Bannermann hereilen, aber Andara hielt mich mit einer raschen Geste zurück, schüttelte den Kopf und deutete nach Norden, aufs Meer hinaus.
Im ersten Moment sah ich nichts außer dem endlosen blauen Wogen des Ozeans, aber dann erkannte ich, was der Magier mir zeigen wollte.
Unter der Wasseroberfläche, vielleicht eine halbe Meile von der LADY OF THE MIST entfernt, schimmerte ein gigantisches, dunkles Etwas. Seine genaue Form war nicht zu erkennen, aber es war langgestreckt und massig wie ein Wal. Nur größer. Viel, viel größer.
Ich wollte etwas sagen, aber Andara gebot mir mit einer hastigen Geste, zu schweigen. Ich verstand. Die Stimmung an Bord war nach diesem neuerlichen Vorfall ohnehin kurz vor dem Siedepunkt. Wenn die Matrosen den Schatten, der dem Schiff folgte, bemerkten, konnte es zu einer Katastrophe kommen.
Bannermann kam zurück. Sein Gesicht war bleich vor Schrecken, und um seinen Mund lag ein bitterer Zug, den ich bisher nicht an ihm bemerkt hatte. Seine Hände waren blutig. Aber es war nicht sein Blut.
»Tot«, sagte er dumpf. »Beide.« Er blieb stehen, fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch das Gesicht und beschmierte sich dabei mit Blut, ohne es zu bemerken. »Ich ... ich begreife nicht, was in Barton gefahren ist«, murmelte er. »Er ... muß verrückt geworden sein.« Er sah Andara an, und wieder glomm in seinen Augen dieses mahnende, flackernde Feuer auf. Der Mann mußte kurz davor sein, den Verstand zu verlieren.
Andara schwieg, aber vermutlich hätte Bannermann seine Worte gar nicht verstanden, wenn er geantwortet hätte. »Das ist Ihr Werk«, murmelte er. »Sie ... Sie ...« Er schluckte, ballte die Fäuste und hob zitternd die Arme. Ich spannte mich. Aber Bannermann führte die Bewegung nicht zu Ende. »Seit Sie an Bord dieses Schiffes gekommen sind, verfolgt uns das Unglück«, keuchte er. »Sie sind schuld, wenn ...«
»Bannermann!« sagte ich scharf. »Reißen Sie sich zusammen!«
Andara warf mir einen raschen, dankbaren Blick zu, schüttelte aber den Kopf. »Laß ihn, Junge«, sagte er sanft. »Er hat recht. Ich wollte, ich könnte es rückgängig machen.«
»Vielleicht können wir es ja«, sagte eine Stimme. Ich sah auf und bemerkte erst jetzt, daß wir nicht mehr allein waren. Ein Teil der Matrosen war Bannermann gefolgt und hatte uns umringt. Es waren müde, abgekämpfte Gesichter, die uns anstarrten. Aber in einigen von ihnen flackerte der Haß. Ich konnte die Spannung, die plötzlich in der Luft lag, beinahe riechen.
»Halten Sie den Mund, Lorimar«, sagte Bannermann müde. Plötzlich war der Zorn aus seinem Blick gewichen. Er sah jetzt nur noch erschöpft aus.
Der Angesprochene erwiderte seinen Blick trotzig, trat einen halben Schritt vor und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich denke nicht daran, Captain«, sagte er. »Sie haben es ja selbst gesagt. Seit dieser Kerl« - damit deutete er auf Andara - »unser Schiff betreten hat, ist der Teufel an Bord. Glauben Sie ...?«
»Nichts habe ich gesagt«, unterbrach ihn Bannermann wütend. »Ich habe die Beherrschung verloren und Unsinn geredet, das ist alles.«
»O nein, Captain«, erwiderte Lorimar aggressiv. »Sie haben die Wahrheit gesagt.« Er schnaubte. »Denken Sie wirklich, daß wir Ihnen abkaufen, es wäre Zufall, daß dieses Biest uns ausgerechnet jetzt angegriffen hat? Oder daß Barton ausgerechnet jetzt durchgedreht ist?« Die Menge um uns herum wuchs, und mehr als nur einer gab ein zustimmendes Knurren von sich. Instinktiv zählte ich die Anzahl der Köpfe durch und überschlug unsere Chancen, falls es zu Gewalttätigkeiten kommen sollte. Sie waren nicht besonders gut.
»Was wird das?« fragte Bannermann lauernd. »Eine Meuterei, Lorimar? Mit Ihnen als Anführer?« Er versuchte, spöttisch zu klingen, aber es gelang ihm nicht ganz.
»Keine Meuterei, Captain«, erwiderte Lorimar. »Wir haben nichts gegen Sie. Aber wir wollen, daß dieser Kerl von Bord geht. Schmeißen Sie ihn ins Meer. Er verbreitet Unglück wie die Ratten die Pest.«
»Sie sind verrückt!« keuchte Bannermann. »Mister Montague!«
»Andara, wollten Sie sagen«, unterbrach ihn Lorimar kalt. Bannermann erbleichte, und Lorimar fuhr, selbstsicher geworden, fort: »Denken Sie, wir wissen nicht, wer er ist?« Er lachte. »Mannings hat ihn erkannt, als er in New York an Bord ging, aber wir haben gedacht, daß uns das alles nichts angeht. Wir hätten ihn gleich über Bord werfen sollen, noch bevor wir losgefahren sind!«
»Kein Wort mehr!« schrie Bannermann. »Geht an eure Arbeit! Ich lasse jeden, der in zehn Sekunden noch hier steht, wegen Meuterei vor Gericht stellen. Ihr ...«
Andara legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie ihn, Captain«, sagte er leise. Bannermann wollte seine Hand abstreifen, aber Andara schob ihn einfach zur Seite, trat auf Lorimar zu und blickte ihm starr in die Augen.
»Sie haben recht, Lorimar«, sagte er ruhig. »Ich bin Andara. Der Hexer.« Er lächelte dünn. »So nennt man mich doch, nicht? Aber ich habe mit dem, was gerade geschehen ist, nichts zu tun. Der Mann hat schlicht und einfach den Verstand verloren. Was geschehen ist, war zuviel für ihn.«
»Es wäre nicht passiert, wenn Sie nicht an Bord wären«, zischte Lorimar. Aber er hatte den Großteil seiner Selbstsicherheit verloren, und der wütende Klang in seiner Stimme war jetzt nur noch Trotz.
Andara nickte. »Das stimmt«, gestand er. »Und ich bin bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ich ... Wenn es etwas ändern würde, würde ich mich freiwillig dem Ungeheuer ausliefern, das uns folgt. Aber es wäre sinnlos.«
»Warum?« keuchte Lorimar. »Es ist Ihretwegen hier. Sie sind es, den es haben will, nicht wahr? Vielleicht läßt es uns in Ruhe, wenn es Sie hat!«
»Das wird es nicht«, erwiderte Andara kopfschüttelnd. »Dieses Wesen denkt nicht wie ein Mensch. Es sind andere Regeln, die sein Denken und Handeln bestimmen. Es wird nicht eher ruhen, bis es dieses Schiff und den letzten Mann seiner Besatzung vernichtet hat.« Irgend etwas änderte sich im Klang seiner Stimme. Ich wußte selbst nicht, was es war; vielleicht die Art, in der er die Worte betonte, vielleicht auch nur die Lautstärke - aber mit einemmal hatten seine Worte einen befehlenden, suggestiven Klang, der jeden Gedanken an Widerstand lächerlich erscheinen ließ. »Ihr habt recht, wenn ihr mich verantwortlich macht«, fuhr er fort. »Und doch bin ich der einzige, der euch jetzt noch retten kann. Solange ich lebe, ist dieses Schiff sicher. Wenn ihr mich tötet, wird er euch vernichten. Und jetzt geht an eure Arbeit.« Er hob den Arm und deutete mit einer befehlenden Geste zum Bug des Schiffes. »Ändert den Kurs«, sagte er. »Wir fahren nach Süden. Zur Küste.«