Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Geräusche aus meiner Umgebung wurden von der feuchten, mit tausend feinen Wassertropfen gesättigten Luft gedämpft, aber auch ohne es zu hören spürte ich, daß etwas auf mich zuhielt. Etwas Unsichtbares, Böses.
Und dann sah ich es.
Ein dunkler, mächtiger Schatten, den ich aus der Ferne für einen Baum gehalten hätte, hätte er nicht mitten auf dem Pfad gestanden. Der Schein meiner Lampe reichte nicht weit genug, um mich Einzelheiten erkennen zu lassen. Ich erkannte nur, daß dieses Etwas groß war.
Groß genug, um ein Shaggote sein zu können.
Ich blieb abrupt stehen. Mein Herz hämmerte bis zum Hals, und einen Moment mußte ich gegen den Impuls ankämpfen, herumzuwirbeln und wegzulaufen. Mühsam bezwang ich meine Angst, starrte dem Ungeheuer entgegen und konzentrierte mich auf die bevorstehende Auseinandersetzung.
Der Angriff erfolgte ohne Vorwarnung. Etwas raste auf mich zu, eine Wolke dunkel zusammengeballter Ausdünstungen, der stinkende Odem einer vorzeitlichen Bestie.
Ich riß den Arm hoch, zu spät und zu langsam, um den Wirbel aufzufangen, der mich mit der geballten Kraft grausamen Zornes zurücktaumeln ließ. Die Lampe schwankte wild im Kreis, beschrieb, meiner Hand entrissen, wirre Muster in den Nebel und schlug krachend auf dem Boden auf. Das Karbid dampfte auf, grelle Lichtfinger griffen nach mir, und dann war vollkommene Dunkelheit um mich.
Ich blieb wie erstarrt stehen. Das Femde, das mich wie eine tosende Brandung umspülte, war nicht materiell, wie ich zuerst geglaubt hatte.
Alptraumhafte Zwerge und Hexen tanzten den Pfad entlang, brachen aus dem Nebel hervor und überschütteten mich mit ihrem Spott. Sie wirkten nicht stofflich und auf grausame Weise doch real, wie Kobolde in einem Gemälde, die auf mysteriöse Weise zu Leben erwacht waren, aus dem Rahmen sprangen und den fassungslosen Betrachter mit ihrer plötzlichen Lebendigkeit in Schrecken versetzten.
Kleine, drollige Kerle mit Pudelmützen auf gehörnten Köpfen trieben heran, dürre, hexenartige Wesen drängten sie beiseite, zu wirklich, um nur Phantasiegeschöpfe sein zu können. Das waren keine vom Nebel geschaffenen Trugbilder, das war grausame, lähmende Wirklichkeit.
Ein seltsames Geschöpf, halb Ratte, halb Frau, deutete mit ihrem klauenhaften Zeigefinger auf mich und verzog das Gesicht zu einer abstoßenden Grimasse. Die Rattenschnauze, die listigen, heimtückischen Augen und der schlanke, mädchenhafte Körper, der in den Sprunggelenken einer menschengroßen Ratte auslief, bildeten eine abscheuliche Mischung. Ich wich Schritt für Schritt zurück, ohne meinen Blick von der Kreatur wenden zu können.
Die feuchten Ausläufer des Nebels umklammerten meine Beine, krochen meinen Körper empor und erstickten mein Denken. Ich spürte fast panische Angst in mir, aber ein Teil meines Geistes blieb von dem Grauen unberührt und beobachtete die laufende Veränderung der Rattenfrau mit geradezu wissenschaftlicher Neugier.
Ihr Körper überzog sich langsam mit dichtem, borstigem Fell, und die Finger wurden zu Klauen. Die Wesen, die sie umtanzten, waren nicht mehr als Kobolde, Geschöpfe reiner Phantasie.
Ich beachtete sie nicht. Ich starrte nur auf die Rattenfrau. In ihrem Bück lag kalte, tierische Entschlossenheit, aber da war auch noch etwas anderes. Etwas Bekanntes, etwas, das ich in dem Spiegel gesehen hatte, bevor er barst, und zuvor in Lyssas Augen, in den Augen der Hexe, die zeitweise Macht über Priscylla gewonnen hatte.
Der Nebel lag wie eine erstickende Schicht auf meinem Denken, aber nicht er war es, der mich bedrohte, sondern dieses ... dieses Geschöpf, das beharrlich auf mich zuhielt. Es schien mir fast so, als schützte der Nebel meinen Geist, als blockte er meinen Verstand gegen den Wahnsinn ab, der nach mir greifen wollte. Das war natürlich Unsinn. Wahnsinn wie alles, was ich zu sehen glaubte.
Nichts als Einbildungen, als wüste Nebelphantasien ...
Durch das ekelhafte Geschöpf lief ein Zittern. Es krümmte sich zusammen, brach in die Knie, krümmte sich abermals zusammen, stieß ein scharfes Zischen aus und richtete sich dann mühsam, wie unter Schmerzen, wieder auf.
Der Nebel wich fluchtartig vor dem Rattenkörper zurück, vor dem Körper, der nun überhaupt nichts Menschenähnliches mehr an sich hatte.
Aber das Gesicht!
Es war das Gesicht Lyssa-Priscyllas, der Hexe, die mir schon einmal fast zum Verhängnis geworden wäre! Ich schrie auf.
Mit erhobenen Klauen taumelte die Kreatur auf mich zu. In den Klauen blitzte etwas auf, etwas Metallisches, das nicht zu dem tierischen Körper paßte. Obwohl ich es kaum wahrnahm, spürte ich instinktiv die Gefahr.
Ich warf mich zur Seite. Eine krachende Explosion zerriß die Dunkelheit. Der Donner hallte in meinen Ohren wider und ließ mich taumeln. Ich schwankte, stolperte über eine Wurzel und stürzte schwer zu Boden.
Dann war der Nebel über mir, brach wie eine Welle über mir zusammen und erstickte meinen Schrei. Ich hustete und rang verzweifelt nach Atem. Der Nebel drang in meine Kehle und lähmte sie. Es war kein gewöhnlicher Nebel; ich hatte das Gefühl, geschmacklosen Sirup zu inhalieren. Einen fürchterlichen Moment lang glaubte ich zu ersticken, aber dann fühlte ich mich plötzlich auf die Füße gerissen und von kräftigen Armen geschüttelt.
»Reißen Sie sich zusammen, Mann«, herrschte mich eine hersche Stimme an.
Eine Männerstimme!
Mühsam hob ich den Blick.
Die Rattenfrau war verschwunden, hatte sich wie eine Illusion verflüchtigt und das Heer der Alptraumgestalten mit sich genommen. Ihren Platz hatte ein Riese eingenommen, ein Mann, der mich um Haupteslänge überragte. Ich hatte alles erwartet, eine Horrorfratze, die Tentakel eines urzeitlichen Monsters, aber nicht das ...
»Sean!« krächzte ich.
Meine Stimme hatte kaum noch etwas Menschliches. Die Luft, die ich ausstieß, mischte sich mit Nebelschwaden.
Wortlos starrte ich in das Gesicht des Mannes, den ich zuletzt in Durness gesehen hatte.
Und der sich dann als Reinkarnation meines toten Vaters Roderick Andara entpuppt hatte!
Es war ein strahlend schöner Tag gewesen, und Pri hatte in Begleitung von Mrs. Sunday einen Spaziergang durch die großzügig angelegte Gartenanlage machen dürfen. Die Sonnenstrahlen hatten ihre Haut gekitzelt und sie mit Bedauern daran denken lassen, daß jetzt der Winter einkehren würde. Die Freude über den Sonnentag war noch nicht einmal durch Dr. Baltimore getrübt worden, der sie heute erstaunlicherweise in Ruhe gelassen hatte.
Als sie jetzt die gleichmäßigen, schmalen Stufen aus spiegelndem Stein hinabstieg, hatten ihre Schritte wieder etwas von der alten Kraft an sich, und die Gedanken, die sie in den letzten Monaten gequält hatten, waren in den Hintergrund getreten.
Dr. Baltimore war ein schlechter Mensch, der ihr unbedingt einreden wollte, daß sie krank war. Dabei war er es, der krank war und Hilfe brauchte, darüber waren sich alle einig. Er hielt sie hier wie Gefangene, und nur, wer auf den schwarzen Grund seiner Seele zu blicken vermochte, konnte ahnen, warum er das tat.
Pri hatte ihm nichts getan, und sie hatte auch sonst niemandem etwas getan. Es war böse und gemein, sie trotzdem hier festzusetzen. Draußen wartete die große Welt auf sie, und sie hatte sich geschworen, sie nicht ewig warten zu lassen.
Es würde der Tag kommen, an dem diese Festung fallen würde. Acorn, Santers und sie selbst bildeten eine starke, zentrale Kraft, der sich auch Dr. Baltimore nicht entziehen konnte.
Sie kicherte bei dem Gedanken daran, was der gute Doktor sagen würde, wenn er wüßte, wohin sie jetzt gerade ging. Das Haus lag im Schlaf, und natürlich war es den Patienten nicht gestattet, nachts geheime Versammlungen abzuhalten. Noch dazu diese Art von Versammlungen, zu der sie sich zusammenfanden.