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»Erinnerst du dich wirklich nicht, Pri, oder ist das nur einer deiner seltsamen Scherze?«

In seiner Stimme klang eine stumme Drohung mit.

»Ich erinnere mich wirklich nicht«, sagte Pri bestimmt. Sie funkelte ihn an.

»Vorausgesetzt, es gibt überhaupt etwas, an das ich mich erinnern könnte«, fügte sie spitz hinzu.

Acorn blieb eine Antwort erspart. Schwere Schritte verkündeten, daß jemand auf dem Weg zu den Gewölben war.

»Wer ist das?« fragte Pri scharf.

»Santers«, antwortete Acorn gereizt. »Er scheint es geschafft zu haben.«

Er wollte sich auf den Weg zur Tür machen, aber Pri sprang auf und hielt ihn am Ärmel seines Jacketts fest. »Das ist doch nicht Santers. Der trampelt doch nicht wie ein wildgewordener Ochse die Treppe herunter.«

»Laß mich los«, zischte Acorn und schob ihre Hand zur Seite. »Ich muß ihm helfen.«

»Bei was helfen?«

Acorn antwortete nicht. Er nahm die Kerze vom Tisch und stürmte an ihr vorbei.

Es blieb Pri nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, wenn sie nicht im Dunkeln zurückbleiben wollte. Sie spürte eine Ungewisse Erregung in sich, die irgendwie mit diesen polternden Geräuschen in Zusammenhang stand, aber sie konnte sich an nichts Konkretes erinnern.

Der flackernde Schein von Acorns Kerze vermochte den Gang nur unvollständig auszuleuchten. Ein scharfer Lufthauch ließ die Flamme zittern und drohte sie vollständig auszulöschen. Acorn schützte den Docht mit der Hand, und das Licht beruhigte sich, abgeschattet zwar, aber immer noch hell genug, um die Umrisse der Gestalt erkennen zu lassen, die auf ihn zutaumelte.

Es war Santers.

Sein jungenhaftes Gesicht war verzerrt, und auf seiner Stirn perlte Schweiß. Aber das war es nicht, was Pri mitten im Schritt erstarren ließ.

Er schleppte etwas mit sich. Etwas von der Größe einer Bettdecke, aber etwas, das viel schwerer sein mußte. Etwas mit Händen, die auf dem Rücken zusammengebunden waren, mit einem Knebel im Mund und angstvoll geweiteten Augen.

Einen Menschen. Eine Frau!

»Woher kennen Sie mich?« fragte der Riese grob.

Seine Hände drückten schmerzhaft meine Oberarme zusammen. Er schüttelte mich wie ein Spielzeug und stieß mich dann von sich.

»Reden Sie, Mister. Wenn Ihnen keine vernünftige Erklärung einfällt, muß ich annehmen, daß Sie mir hinterhergeschnüffelt haben.«

Ich taumelte ein paar Schritte, fand mühsam an einem Baumstamm Halt und bedachte ihn mit einem wütenden Blick.

»Und was machen Sie hier?« fragte ich wütend. Ich deutete auf den Revolver in seiner Hand. »Schießen Sie immer erst, bevor Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben?«

Sean runzelte die Stirn. Er war es augenscheinlich nicht gewöhnt, daß man so mit ihm sprach.

»Beantworten Sie mir erst meine Frage«, verlangte er, aber seine Stimme klang nicht mehr ganz so selbstsicher.

Es schien Ewigkeiten her zu sein, daß ich Sean zum letzten Mal gesehen hatte, und doch waren in Wirklichkeit nicht mehr als ein paar Monate vergangen. Seine Worte sagten mir, daß er sich nicht mehr an unsere Begegnung erinnern konnte. Aber vielleicht war er es auch nicht gewesen, mit dem ich in Durness gesprochen hatte.

Wie mein Vater Macht über einen Körper - oder einen Geist - erlangt hatte, um mit mir in Verbindung zu treten, war mir bis heute unklar. Er war nicht nur einmal in der Gestalt eines anderen aufgetreten, aber das Erlebnis mit Sean war besonders einprägsam gewesen. Es war verwirrend, jetzt vor diesem Mann zu stehen, den ich einerseits gut zu kennen glaubte, und der doch andererseits ein Fremder war ...

Aber jetzt war weder der rechte Augenblick, noch der richtige Ort, um sich darüber Gedanken zu machen. Die Vision der Rattenfrau hatte sich zwar verflüchtigt, aber in dem Nebel, der noch immer zu beiden Seiten des Pfades wallte, konnte noch so manche Überraschung auf uns lauern.

»Ich warte auf eine Antwort«, knurrte Sean.

Die Mündung seines Revolvers bewegte sich fast unmerklich ein Stück nach oben.

»Stecken Sie erst dieses Ding da weg«, sagte ich. »Oder glauben Sie etwa ernsthaft, ich wollte Sie angreifen?«

Sean kniff die Lippen zusammen und ließ den Revolver widerstrebend sinken. »Sie vielleicht nicht. Aber ...«

»Aber was?« fragte ich rasch.

»Ach, nichts.« Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Dieses Ding ...« Er zuckte mit den Achseln. »Zuerst dachte ich, es sei ein Bär. Ein großes Vieh, aber zu dünn für einen Bär, und auch das Fell stimmte nicht. Sie müssen es doch auch gesehen haben. Es ist doch direkt auf Sie zugelaufen.«

Ein ungläubiger Schrecken durchfuhr mich. Dann war es also mehr als ein Trugbild gewesen, mehr als das Resultat meiner überreizten Phantasie.

»Mein Gott«, flüsterte ich. »Sie haben es also auch gesehen?«

Sean nickte, und plötzlich begriff ich, warum er geschossen hatte.

»Was war das?« fragte er. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber wenn Sie mich fragen: Setzen wir unser Gespräch lieber woanders fort. Wer weiß, was sich noch alles im Nebel verbirgt.«

Sean nickte, langsam und zögernd. »Und Sie wissen nicht, was das war?« fragte er mißtrauisch.

Ich zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich? In dieser Suppe kann man sowieso nicht viel erkennen. Vielleicht war es ein Bär, vielleicht auch nicht.«

Sean schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sie wissen mehr, als Sie zugeben wollen«, behauptete er. »Und jetzt versuchen Sie sich geschickt davor zu drücken, mir zu sagen, woher Sie mich kennen. Aber lassen wir das. Zumindest für einen Moment. Wohin wollten Sie eigentlich?«

»Spazierengehen«, sagte ich rasch. »Ich bin fremd hier und habe mich wohl etwas verlaufen.«

Sean wischte meine Worte mit einer ärgerlichen Bewegung zur Seite.

»Versuch nicht, mich zum Narren zu halten«, fuhr er mich an. »Zu dieser Zeit und bei diesem Wetter spazierenzugehen, ohne sich in der Gegend auszukennen, ist doch Wahnsinn. So dumm sind Sie nicht. Und ich bin nicht so dumm, Ihre Geschichte zu glauben!«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wie Sie meinen. Was suchen Sie denn eigentlich hier?«

Sean funkelte mich einen Herzschlag lang ärgerlich an, aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Ich ahnte, daß er genausowenig wie ich eine überzeugende Erklärung für seinen nächtlichen Spaziergang hatte.

»Okay, lassen wir das. Wie sagten Sie doch so treffend? Hier ist nicht der rechte Ort für Diskussionen. Außerdem habe ich noch etwas zu erledigen. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie mich bis zum Ende des Waldpfads begleiten, aber dann werden sich unsere Wege trennen.«

Ich atmete tief ein. »Einverstanden«, sagte ich.

Es war mir klar, daß die Begegnung mit Sean kein Zufall war, daß irgend etwas dahinter steckte, was sich jetzt noch nicht absehen ließ. Etwas, das mit meinem toten Vater zu tun hatte.

Aber hatte Andara bei unserer letzten Begegnung nicht angekündigt, daß wir uns so bald nicht mehr wiedersehen würden? War das nun wirklich Sean, der da vor mir stand, oder war es wieder mein Vater, der sein eigenes Spiel spielte und mir trotz seines Todes schon wiederholt beigestanden hatte?

Ich wollte mich in Bewegung setzen, aber Sean hielt mich am Ärmel fest, »Nicht hier lang«, sagte er. »In die andere Richtung.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Das Haus meines Freundes liegt jenseits des Waldes.«

»Jenseits ist ein sehr dehnbarer Begriff«, bemerkte Sean. »Abhängig, von welcher Seite aus man die Sache sehen will. Wie heißt denn Ihr Freund?«

»Baltim ...«

Ich brach ab und biß mir auf die Lippe. Ich brauchte nicht in Seans Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß er mich wie einen dummen Jungen hereingelegt hatte. Sein Griff um meinen Arm verstärkte sich, und sein Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepreßt.