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»Baltimore?« fragte er.

Ich nickte widerstrebend, obwohl ich mich in diesem Moment selbst hätte ohrfeigen können.

»Welch merkwürdiger Zufall«, sagte Sean lauernd. »Ausgerechnet zu Baltimore wollen Sie, und das ausgerechnet in dieser Nacht...«

Er brach ab und starrte nachdenklich in den Nebel.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mich loszulassen ...«, stieß ich gepreßt hervor. Ich hatte das Gefühl, daß mein Arm in einer Schraubzwinge stecken würde, die sich immer mehr zusammenzog.

Sean gab mich tatsächlich frei. Er schien einen Entschluß gefaßt zu haben, und was auch immer er von dem Zufall unserer Begegnung halten mochte, schien er mich doch nicht als Feind zu betrachten. Aber ich mußte auf der Hut sein. Ich wußte, was für Kräfte in diesem Riesen schlummerten.

»Wenn Sie Baltimore so gut kennen, wird es Ihnen ja nichts ausmachen, mich ihm vorzustellen«, sagte er leichthin.

»So gut kenne ich ihn nun auch wieder nicht«, sagte ich ausweichend. »Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, daß er um diese Zeit noch Besuch empfängt.«

»Er wird mich schon empfangen«, meinte Sean. »Verlassen Sie sich darauf.«

»Und in welche Richtung gehen wir?« fragte ich.

»Das bestimmen Sie. Sie werden ja wohl noch wissen, wo Ihr Freund wohnt.«

Ich nickte zögernd und deutete in die Richtung, aus der die Rattenfrau auf mich zugekommen war. »Da entlang«, murmelte ich.

Pri blinzelte, schlug die Hand vor den Mund, starrte von der gefesselten und geknebelten Frau zu Acorn, der sich wortlos daran machte, Santers zu helfen. Sie verstand nichts, obwohl sie zweifelsohne an den Vorbereitungen dieser Tat beteiligt war, vor Tagen oder Wochen, vor einer Zeit, die so weit zurücklag ...

Langsam, ganz langsam tastete sich die Erinnerung vor, streckte die Fühler nach ihrem Bewußtsein aus, versorgte sie bruchstückhaft mit Informationen, ließ sie Dinge wissen, die sie lieber für alle Zeiten im Dunkel des Vergessens begraben hätte.

»Ihr kommt spät«, keuchte Santers. Man merkte ihm die körperliche Anstrengung an. Er mußte die Frau die ganze Strecke von ihrem Zimmer bis in den Keller geschleppt haben. Allein. »Ihr hättet wenigstens an der Treppe auf mich warten können«, fügte er vorwurfsvoll hinzu.

Acorn warf einen Blick auf Pri und nickte ärgerlich. »Nimm die Kerze. Oder willst du Santers helfen?«

Pri schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. Die Augen der gefangenen Frau saugten sich hilfesuchend an ihr fest, als sie die Kerze nahm und zitternd den Männern Platz machte.

Wie kannst du das zulassen, schienen die Augen zu sagen. Sie waren so fürchterlich groß, diese Augen, strahlend blau und riesengroß. Wie kannst du es nur zulassen, wo wir heute noch einen so schönen Tag im Garten verbracht haben. Du weißt doch, daß ich nicht mit allem einverstanden bin, was der Doktor macht. Laß es nicht zu, um Gottes willen, laß es nicht zu!

Pri wandte sich schaudernd ab. Sie ertrug diesen Blick nicht.

»Pri!« fuhr Acorn sie an.

Er hatte die Frau bei den Beinen gepackt und schleifte sie mit sich. Santers war keine große Hilfe mehr. Er war sowieso nicht der Kräftigste, und jetzt, wo er nicht mehr allein war, und die Anspannung nachließ, war er kaum noch zu etwas nutze.

»Pri! Wohin leuchtest du denn? Ich seh' ja gar nichts!«

Pri zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Sie brachte es nicht über sich, einen Blick auf Mrs. Sunday zu werfen, aber sie hob gehorsam die Kerze ein Stück höher und streckte den Arm vor.

»Du sollst mir nicht die Haare verbrennen, verdammt!« zischte Acorn. »Was ist denn bloß mit dir los?«

Pri zog die Kerze wieder ein Stück an sich heran und schluckte krampfhaft. Die ganze Situation hatte etwas Alptraumhaftes an sich.

Acorn und Santers schleiften Mrs. Sunday ins Heiligtum und legten sie achtlos neben dem runden Tisch ab. Pri war an der Tür stehengeblieben und starrte entsetzt auf das hilflose Bündel.

Santers ließ sich erschöpft auf einem Stuhl nieder und schlang die Arme um den Körper. Er zitterte vor Kälte und vor Anstrengung.

»Mein Gott, war das knapp«, murmelte er. »Fast wär's schiefgegangen.«

»Der Doktor?« fragte Acorn. Er ging neben der Wärterin in die Hocke. Was hat er bloß vor? dachte Pri entsetzt. Seine Hände fuhren über ihre Fesseln, prüften ihren Knebel, und schließlich nickte er. Er wirkte vollkommen sachlich, wie ein Arzt, der eine Schwerkranke betreut.

»Nicht der Doktor«, antwortete Santers. »Henesey, dieser hochnäsige Butler. Nachdem ich mit ihr fertig war, warf ich einen Blick auf den Flur, um mich zu überzeugen, daß die Luft rein ist.«

»Und?« Acorn sah zu dem Jungen hoch und richtete sich wieder auf.

»Er hat mich gesehen. Er stand praktisch vor der Tür. Was meinst du, was der Mistkerl für Augen machte, als ich aus Mrs. Sundays Tür kam.« Santers wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. »Wenn ich daran denke, wird mir noch jetzt ganz schlecht.« »Du hast ihn doch nicht etwa gehen lassen?« fragte Acorn besorgt.

Santers grinste. »Sehe ich so aus? Wenn man ihn sucht, wird man ihn in Mrs, Sundays Bett finden. Mit einem Messer im Bauch. Ich frage mich, was der Doktor dazu sagen wird.«

Acorn gestattete sich ein dünnes Lächeln. »Sehr gut. Ich hoffe nur, daß niemand deinen ... eh ... Transport beobachtet hat.«

Santers schüttelte den Kopf. Sein Blick fiel auf Pri und wurde besorgt. »Was ist mit dir los?« fragte er. »Du siehst plötzlich so blaß aus.«

»Sie ist den ganzen Abend schon etwas seltsam«, sagte Acorn rasch. »Kümmere dich nicht um sie. Sie wird uns nicht enttäuschen.«

Der Blick, mit dem er Pri musterte, wirkte fahrig und unsicher, als sei sie die letzte unbekannte Größe in einem ihr unbekannten Spiel.

»Bei was werde ich euch nicht enttäuschen?« fragte Pri.

Ihre Stimme klang heiser und fremd, und obwohl sie die Antwort auf ihre Frage längst kannte, fühlte sie wachsende Panik in sich. Sie wollte gar nicht wissen, was sie von ihr verlangten, und sie wollte gar nicht wissen, ob sie zu diesem Schritt wirklich bereit sein könnte.

Acorn schien ihre Bedenken zu kennen, und einen langen schrecklichen Augenblick verharrte er mitten in seiner halb gebückten Stellung. Dann ging er schließlich zum Tisch, zog schnell und entschlossen einen Stuhl heran, und ließ sich nieder.

»Es wird Zeit«, sagte er leise. »Vollzieh das Opfer, Lyssa.«

Wir beeilten uns. Der Pfad blieb auf der ganzen Länge nebelfrei, aber die dichten Schwaden um uns ließen kaum einen Blick auf den Himmel zu. Ich hatte jeden Zeitsinn verloren, und es kam mir vor, als ob ich schon Stunden der Schneise folgen würde, die für uns in den Nebel geschlagen war.

Ich konnte den Verdacht nicht loswerden, daß wir in eine Falle liefen. Es wirkte alles zu vorbereitet, zu künstlich, um noch Zufall sein zu können. Aber selbst wenn wir geradewegs in unser Verderben liefen, konnte ich nicht mehr zurück. Eine unbekannte Kraft trieb mich weiter, und ich ahnte, daß es so oder so zu einer Auseinandersetzung kommen würde.

Schließlich lichteten sich die Baumreihen, der Pfad verbreiterte sich und lief in einem schlammigen Feldweg aus. Der Nebel, der über den Feldern lag, floß vor uns zurück und gab den Blick auf einen breiten, geschotterten Weg frei.

»Ist es das?« fragte Sean leise.

Ich nickte. Obwohl ich noch nie hiergewesen war, wußte ich, daß mein Ziel vor mir lag. Ich spürte die Anwesenheit Priscyllas fast körperlich. Sie war hier, in dem Haus, zu dem der geschotterte Weg führen mußte.