Und sie war in Gefahr. Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich die Gefahr, in der sie schwebte. Angst kroch in mir hoch, die Angst, zu spät zu kommen. Ich rang mühsam nach Atem und versuchte, die Lähmung, die meinen Körper ergriffen hatte, zurückzudrängen.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Sean.
»Doch, doch«, brachte ich mühsam hervor. »Es geht schon wieder.«
Ich setzte mich wieder in Bewegung, mühsam, mit verkrampften Beinen und zitternden Händen.
Schon nach wenigen Metern mündete der Feldweg in der Zufahrt zum Haus. Der Schotter knirschte unter meinen Füßen, und der Nebel, der uns gerade noch umklammert hatte, zog sich fast fluchtartig zurück.
Erleichtert atmete ich auf. Ich spürte erst jetzt, wie schwer es mir gefallen war, dort im Nebel Luft zu holen.
Die Zufahrt endete an einem schweren Eisentor, das in einer übermannsgroßen Mauer verankert war. Ich blieb stehen und sah Sean an.
»Und jetzt?« fragte ich. »Wie kommen wir aufs Grundstück? Um diese Zeit wird man uns nicht mehr aufmachen.«
Irgendwo in der Ferne schrie ein Käuzchen, das erste Geräusch, das nicht vom Nebel gedämpft wurde. Ich starrte in den Himmel. Die Sterne funkelten teilnahmslos am Firmament, keine einzige Wolke und keine Nebelschwade verwehrte mehr den Blick auf sie.
»Wo ist bloß der Nebel geblieben?« fragte Sean. »Er kann sich doch nicht so plötzlich auflösen.«
»Diese Frage ist im Moment mehr akademischer Natur«, erwiderte ich.
Ich starrte an Sean vorbei auf den Waldrand und unterdrückte mühsam ein Zittern, das meinen ganzen Körper ergreifen wollte. Einen Moment lang glaubte ich den schlanken Schatten der Rattenfrau zu erkennen, aber dann war er auch schon wieder im Schutz der Bäume verschwunden.
»Wir sollten machen, daß wir reinkommen«, drängte ich.
Sean rüttelte prüfend am Gitter. »Solide Arbeit«, murmelte er anerkennend.
Er holte etwas aus den Tiefen seiner Jackentaschen hervor und machte sich an dem Schloß zu schaffen. In diesem Moment kam es mir gar nicht in den Sinn, zu fragen, wie er auf den Gedanken kam, hier einzubrechen. Ich wollte nur so schnell wie möglich zu Priscylla.
Und so schnell wie möglich die Schatten hinter mir lassen, die am Rande des Waldes hinter dem Nebel auf uns lauerten.
»Du hättest wirklich etwas besser auf ihn aufpassen können«, sagte Howard leise.
In seiner Stimme schwang Besorgnis, aber auch eine Spur von Resignation und Müdigkeit mit, die ihn fast selbst erschreckte. Er wußte, daß er den Anstrengungen, die ihm die letzten Monate abverlangt hatten, nicht auf Dauer gewachsen war. Aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als vorerst weiterhin auf den Jungen aufzupassen.
Robert Craven hatte noch lange nicht den Punkt erreicht, das Erbe seines Vaters bis zur letzten Konsequenz anzutreten. Vielleicht war er einfach zu jung. Solange er sich wie ein verliebter Pennäler benahm, brachte er nicht nur sich selbst, sondern ihre gemeinsamen Anstrengungen in Gefahr. Dabei schien er auch noch zu glauben, daß Howard und Rowlf nicht wußten, wonach er hier suchte.
Ausgerechnet hier. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte sich Howard darüber amüsiert. Robert war alles andere als dumm, aber selbst die Klügsten benahmen sich manchmal wie Kinder, wenn sie verliebt waren.
Schließlich hatte Howard selbst angeordnet, daß Priscylla zu Baltimore gebracht wurde. Es konnte wohl kaum ein Zufall sein, daß Robert so zielstrebig in diese Gegend gefahren war.
»Tut mir leid«, murmelte Rowlf. »Dachte, er war' aufm Klo.«
»Was?« Howard musterte seinen hünenhaften Diener einen Moment verständnislos, bevor er sich auf den Vorwurf besann, den er ihm kurz zuvor gemacht hatte.
Der Lärm, der um sie herum herrschte, übte nicht gerade eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Die meisten Männer waren bereits aufgebrochen, aber einen Tisch weiter saßen noch drei Betrunkene, die sich krampfhaft an ihren Gläsern festhielten und sich von einem mürrischen Flenelton bedienen ließen.
»Schon gut, Rowlf. Ich hätte ja auch daran denken können. Der Bursche ist momentan zu allem fähig.« Er seufzte, schwieg einen Moment und fuhr mehr zu sich selbst als an Rowlf gewandt fort:
»Ich frage mich, ob wir nicht einen Fehler gemacht haben. Wir hätten in aller Ruhe zu Baltimore reisen und dort auf ihn warten sollen. Es war doch vorauszusehen, daß er zu Priscylla wollte.«
Rowlf nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Lider waren halb geschlossen, und auf seinem Gesicht stand ein fast schwachsinnig wirkender Ausdruck. Jeder zufällige Betrachter hätte ihn für einen hirnlosen Tölpel halten können, aber seine zur Schau getragene Dummheit war nichts weiter als eine schauspielerische Glanzleistung.
»Soll'n wer ihm nach?« fragte er.
»An sich haben wir gar keine andere Wahl«, sagte Howard stirnrunzelnd. »Aber mir behagt der Gedanke nicht, durch die Dunkelheit zu stolpern. Schon gar nicht bei diesem Nebel.«
»Schlimm, dieser Nebel«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Howard wandte sich um, langsam, als habe er Mühe, sich in seinem übermüdeten Zustand überhaupt zu der Bewegung aufzuraffen. Sein Blick glitt über das Gesicht des Mannes, der hinter ihm an der Wand stand. Er mußte Zeuge ihres Gesprächs geworden sein.
Es war nur die Frage, wieviel er mitbekommen hatte. In dem Blick des Mannes schimmerte eine Wachsamkeit, die in keinem Verhältnis zu seinen drei Nachbarn stand, die volltrunken und selbstvergessen einen Tisch weiter saßen.
Howard erkannte ihn. Es war der Mann, der neben dem Hintereingang gestanden hatte, als er und Rowlf die Gaststube »gestürmt« hatten. Schon bei dieser Gelegenheit war er ihm aufgefallen. Er hatte sich nicht an dem allgemeinen Durcheinander beteiligt, sondern beinahe als einziger einen kühlen Kopf behalten und zur schnellen Klärung der Angelegenheit beigetragen.
»Setzen Sie sich doch zu uns, Sir«, forderte ihn Howard mühsam beherrscht auf. »Es scheint ja gerade so, als ob wir die einzigen wären, die dem Freibier einigermaßen widerstanden haben.«
Er deutete lächelnd auf den Nachbartisch. Einer der drei Zecher war über seinem Bierglas zusammengesackt und bemühte sich, mit lautem Schnarchen das erhitzte Gespräch seiner beiden Freunde zu übertönen.
Der Fremde nickte, lächelte knapp, holte sich dann einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Er lehnte sich zurück und zog eine Schnupftabakdose hervor.
»Wenn ich mich vorstellen darf«, fuhr er fort, während er sich eine Prise genehmigte. »Mein Name ist Richardson.«
»Richardson«, murmelte Howard. »Ist das nicht ein skandinavischer Name?«
»Ganz recht. Mein Großvater stammt aus Schweden. Wenn Sie so wollen, bin ich ein Zugereister in zweiter Generation.«
»Aha.« Howard runzelte die Stirn. Richardsons Anwesenheit beunruhigte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Der Mann paßte nicht nach Lowgreen. Genausowenig wie er selbst oder Rowlf. Aber sie hatten einen triftigen Grund, hier zu sein.
»Ich hoffe, ich habe nicht Ihr Gespräch gestört«, bemerkte Richardson. »Ich hatte den Eindruck, als hätten Sie Wichtiges zu bereden.« Er beugte sich zur Seite und nieste lautstark. »Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit... Entschuldigung.« Er brach ab, holte ein Taschentuch hervor und schneuzte sich.
»Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, daß ich Ihnen behilflich sein könnte«, sagte er, nachdem er sein Taschentuch umständlich wieder verstaut hatte.
»Uns behilflich sein?« fragte Howard mißtrauisch. Er hatte vom ersten Moment an gespürt, daß Richardson mehr als ein einfacher Bauer war, aber noch wußte er nicht, was er von ihm zu halten hatte. »In welcher Angelegenheit?«
»Nun, Ihr stürmischer junger Freund hat sich selbständig gemacht, und Sie fühlen sich für ihn ... sagen wir mal, verantwortlich.« Richardson lehnte sich zurück und lächelte freundlich. »Nun sehen Sie mich nicht gleich so an, als ob Sie mich vergiften wollten. Ich meine es gut mit Ihnen.«