Howard musterte ihn einen Moment schweigend. »Wer sind Sie?« fragte er schließlich.
Seine Stimme klang eisig; alle Freundlichkeit war aus seinem Blick gewichen. Was immer Richardson war, eins war er bestimmt nicht: ein einfacher Bauer, der nur nach einem Vorwand für ein gemütliches Schwätzchen suchte ...
»Mir gehört der einzige Laden in Lowgreen«, antwortete Richardson freundlich. »Wenn Sie so wollen, gehöre ich zu den Honoratioren des Ortes.« Er zuckte mit den Achseln. »Und das, obwohl die Menschen hier immer noch nicht vergessen haben, daß meine Familie erst vor einem halben Jahrhundert aus Schweden eingewandert ist. Es mag Sie überraschen, aber ich werde hier immer noch als Außenseiter betrachtet. Ich hoffe, daß meine Kinder nicht mehr darunter zu leiden haben.«
»Fremde sin hier wohl nich beliebt, wa?« mischte sich Rowlf ein.
Richardson musterte ihn einen Moment, bevor er nickte. »Fremde haben es in Lowgreen schwer. Aber an sich überrascht mich das nicht. So, wie sich die Nichteinheimischen aufführen, kann man es der Bevölkerung nicht verdenken, wenn sie etwas gegen sie hat.«
»Ist diese Bemerkung gegen uns gerichtet?« fragte Howard steif.
Richardson schüttelte langsam und bedächtig den Kopf und beugte sich ein Stück nach vorn. Das Lächeln war aus seinen Augen gewichen und hatte einem besorgten Ausdruck Platz gemacht. »Ich spreche von den Leuten, die jenseits des Waldes wohnen. Von diesem Mr. Baltimore und seinen ...nun, Gästen. Wenn Sie mich fragen: Erwähnen Sie hier besser niemandem gegenüber, daß Sie ihn kennen.«
Howard ahnte, daß es ein Schuß ins Blaue war, aber er konnte trotzdem nicht verhindern, daß er zusammenzuckte. Er war diesem späten Gespräch mit Richardson einfach nicht gewachsen. Der Mann wußte mehr, als er bis jetzt zu erkennen gegeben hatte. Howard wußte noch immer nicht, worauf er eigentlich hinauswollte.
»Was wissen Sie von Baltimore?« fragte er.
»Vielleicht etwas mehr als die anderen«, bekannte Richardson. »Er läßt sich zwar nie im Ort sehen, aber seine Bediensteten kaufen manchmal bei mir ein. Obwohl sie nicht sehr gesprächig sind, habe ich im Laufe der Jahre doch das eine oder andere erfahren.«
»Was haben Sie erfahren?« verlangte Howard zu wissen.
Richardson zuckte mit den Achseln. »Nicht viel. Aber genug, um zu wissen, daß dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Die Bevölkerung weiß zwar, daß Mr. Baltimore dort Geisteskranke aus wohlhabenden Familien einsperrt, aber ich glaube, daß das nicht alles ist. Es steckt noch viel mehr dahinter.«
»Und was, wenn ich fragen darf?«
Richardson lächelte flüchtig. »Genau das wollte ich von Ihnen erfahren.«
»Aber warum?« mischte sich Rowlf ein. »Wozu woll'n Ses denn wissen?«
»Das würde mich allerdings auch interessieren«, pflichtete ihm Howard bei. Sein eiskalter Blick bohrte sich in die Augen seines Gegenübers, aber Richardson blinzelte noch nicht einmal. »Sie verschweigen uns doch etwas, Mr. Richardson.«
»Ich könnte den Vorwurf zurückgeben und es dabei belassen«, antwortete Richardson leichthin. »Aber ich habe einen anderen Vorschlag.« Er warf einen Blick auf den Wirt, der sich ihrem Tisch näherte. Zwei der drei Betrunkenen am Nebentisch hatten sich erhoben und versuchten, ihren schlafenden Zechkumpan gemeinsam in die Höhe zu hieven.
»Machen Sie mir die Freude, mich als meine Gäste zu begleiten, und überlassen Sie mir den Rest.«
Der Wirt war mittlerweile herangekommen und sah unsicher auf sie hinab.
»Tut mir leid, Herrschaften«, sagte er schwerfällig, »aber ich muß jetzt wirklich schließen. Es ist schon nach Mitternacht ...«
»Schon gut, Flenelton«, unterbrach ihn Richardson und winkte ab. »Wir wollten sowieso gerade gehen. Ich habe mich angeboten, Mr. Howard und seine Begleiter bei mir aufzunehmen. Seinen Neffen habe ich schon vorgeschickt. Ich hoffe, ich verderbe dir dadurch nicht das Geschäft.«
»Ach was.« Flenelton grinste unsicher. »Ich hab' sowieso nur drei Zimmer. Eins ist schon vergeben, in einem liegt mein feiner Cousin und schläft seinen Rausch aus, und das dritte ist zu klein für mehrere Personen, vor allem für so feine Herrschaften ...«
»Ja, ja«, unterbrach ihn Richardson erneut und erhob sich. Er nickte Howard zu. »Gehen wir, Sir. Flenelton hat recht. Es ist in der Tat schon recht spät.«
Howard und Rowlf erhoben sich ebenfalls. Howard war alles andere als wohl dabei. Die schnelle, routinierte Art, in der Richardson das vorzeitige Verschwinden Roberts erklärt hatte, trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Er fragte sich, was für Überraschungen der Kaufmann noch auf Lager haben mochte. Aber er hatte das sichere Gefühl, daß es keine angenehmen waren ...
Priscylla blieb wie erstarrt am Eingang stehen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und zu begreifen, was man mit ihr vorhatte. Ihr Blick irrte zwischen dem verschnürten Bündel und Acorn hin und her. Sie konnte nicht glauben, daß Santers tatsächlich einen Mord begangen hatte, um Mrs. Sunday in seine Gewalt zu bekommen.
Und schon gar nicht, daß sie selbst an der Planung der Tat beteiligt gewesen sein sollte.
»Seid ihr verrückt geworden?« stammelte sie. »Was soll der Unsinn. Santers! Schneide sofort die arme Frau los. Sie hat dir doch nichts getan.«
Santers rührte sich nicht. Er hatte die Beine auf den Tisch gelegt und starrte müde in Priscyllas Richtung. Auf seinem blassen Gesicht stand leichte Verwunderung geschrieben. Dicke Schweißperlen liefen seine Stirn hinab und spiegelten sich im flackernden Licht der einzigen Kerze, die mitten auf dem Tisch stand.
»Kümmere dich um sie, Acorn«, sagte er schwerfällig. »Die Kleine weiß mal wieder nicht, was sie redet.«
Acorn nickte. Er löste sich von der Wand und trat einen Schritt vor. Sein Blick streifte Priscylla mit fast schmerzhafter Intensität. Kaum mehr als einen Herzschlag lang versanken ihre Augen ineinander, drangen wilde Strömungen auf Priscylla ein und drohten sie mit sich zu reißen.
Priscylla wandte sich schaudernd ab und preßte die Handballen gegen die Stirn. Ein scharfer Schmerz raste durch ihr Bewußtsein und raubte ihr sekundenlang die Besinnung. Sie glaubte, flammende Feuerwirbel zu sehen, ein Gewirr aus Farben und rätselhaften Symbolen, schattenhafte Gestalten und dann ...
Einen aufgebrachten Mob, der mit Latten, Ketten, Steinen auf sie eindrang, haßerfüllte Gesichter, gierige Hände, die ihr die Kleider vom Leibe rissen, scharfe Messer und Stöcke schwangen, sie schlugen, sie mißhandelten, sie ...
»Nein«, keuchte Priscylla.
Der Wirbel verstärkte sich, aber sie weigerte sich, stemmte sich gegen die Gewalten, die sie mit sich zu reißen versuchten. Sie war stark, sie mußte kämpfen, sie durfte nicht aufgeben, mußte sich gegen den glühenden Feuerball stemmen ...
Und dann, ganz plötzlich, war es vorbei.
Sie stöhnte auf, halb vor Schmerzen, halb vor Erleichterung.
Die Luft wich aus ihren Lungen und hinterließ in den Atemwegen ein verkrampftes, erstickendes Gefühl. Sie taumelte und mußte sich am Rahmen der Tür festhalten, um nicht zu stürzen. Während sie gierig ein- und ausatmete, hatte sie noch immer das Gefühl, von tosenden Flammen umgeben zu sein. Aber jetzt war es nicht mehr als eine entfernte Vision, ein Tagtraum, den sie an den Rand ihres Denkens drängen konnte.
»Ich bekomme ... keine Luft«, stieß sie hervor. »Kann man denn hier kein Fenster aufmachen?«
Acorn lachte rauh. »Hier unten gibt es keine Fenster, Lyssa«, sagte er. »Der Hölle sei Dank.«
Lyssa, die Hexe, nickte langsam, als müsse sie sich erst besinnen, wo sie war. Der quälende Druck auf ihrer Kehle wich, und sie spürte, wie sie neue Kraft durchpulste.