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»Wir sind im Keller, nicht wahr?« fragte sie.

»Im Keller, allerdings. Im Heiligtum, um genau zu sein.« Acorn fuhr sich mit der Hand durch die Haare und warf einen Blick auf Mrs. Sunday, die ihre Unterhaltung verfolgen mußte, ohne sich rühren zu können.

»Ich fühle mich richtig erlöst, Lyssa«, bekannte er. »Jetzt ist endlich der Tag gekommen, auf den wir so lange gewartet haben.«

Lyssa nickte. In ihren Augen glomm ein geheimes Feuer. »Es wird Zeit, daß wir es zu Ende bringen«, sagte sie kühl. »Du hast anschließend noch genug Zeit, dich erlöst zu fühlen.« Ihr Blick fiel auf Santers, der ihr Gespräch schweigend verfolgte.

»Du hast gute Arbeit geleistet, Santers, aber das ist noch kein Grund, dich jetzt auszuruhen.« Sie deutete auf das wehrlose Bündel, zu dem er Mrs. Sunday zusammengeschnürt hatte. »Was getan werden muß, wird getan. Mach dich an die Arbeit.«

Sie stieß sich vom Türrahmen ab und hielt auf den Tisch zu. Noch immer fühlte sie sich schwach, aber es war nur eine rein körperliche Schwäche, die nichts zu bedeuten hatte. Die Kraft, die in ihr schlummerte, hatte alles hinweggewischt, was sie vor ein paar Minuten noch empfunden hatte.

Es erschien ihr geradezu lächerlich, daß sie noch gerade so etwas wie Mitleid mit Mrs. Sunday empfunden hatte. Ein Menschenleben mehr oder weniger, was bedeutete das schon? Sie erinnerte sich an das Gefühl, aber es war, als wären es die Erinnerungen eines anderen.

Es galt jetzt, das zu Ende zu führen, was vor langer, langer Zeit in Jerusalems Lot begonnen hatte. Andara, der Verräter, der sie und die anderen Hexer so schmählich im Stich gelassen hatte, der die Schuld an dem Unglück trug, dem sie alle zum Opfer gefallen waren, war ausgelöscht - aber noch lebte sein Sohn. Der Fluch war noch nicht erfüllt.

Sie ließ sich auf einem der harten Holzstühle nieder und beobachtete ungerührt, wie Santers und Acorn Mrs. Sunday hochzerrten, mit ungeduldigen Bewegungen ihre Fesseln durchtrennten, ihr den Knebel aus dem Mund rissen und sie zu der breiten Holzbank führten, die an der dunklen Außenwand stand. Das Messer in Acorns Hand funkelte bedrohlich, aber sie wußte, daß er es noch nicht benutzen würde.

Noch war es nicht soweit.

Seans Fähigkeiten hatten mich aufs neue in Erstaunen versetzt. Die Leichtigkeit, mit der er das verschlossene Gartentor aufbekommen hatte, trug nicht gerade dazu bei, meinen Verdacht zu zerstreuen. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Seine Anwesenheit im Wald, seine Zielstrebigkeit, mit der er mir seine Begleitung angeboten hatte ...

Während wir auf das Haus zugingen, ließ mich das quälende Gefühl nicht los, daß Sean nicht hierhin gehörte. Bei dem, was ich tun mußte, konnte ich keinen unsicheren Begleiter gebrauchen. Ich mußte unbedingt herausbekommen, was Sean hier eigentlich suchte - oder wer er war.

Der Nebel hatte sich zum größten Teil gelichtet und gab den Blick auf eine großzügige Parkanlage und ein im Dunkeln liegendes, großes Haus frei. Was uns dort erwartete, wußte ich nicht, aber ich spürte, daß es besser war, wenn ich allein ging. Ich hatte schon einmal eine Überraschung mit Sean erlebt, und ich war nicht erpicht darauf, sie zu wiederholen.

Sean bewegte sich leise und geschickt wie ein Dieb. In seiner ganzen Art lag etwas Gespanntes, Selbstsicheres, das mich daran zweifeln ließ, daß er sich zum ersten Mal unerlaubt in fremdes Gelände einschlich. Ich wußte wenig über diesen Mann, zu wenig, um mir ein Urteil über ihn erlauben zu können, aber ich ahnte, daß er ein düsteres Geheimnis mit sich trug.

Ich hätte ihn am liebsten geradewegs danach gefragt. Schließlich verfügte ich über die Fähigkeit, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Aber mit jedem Schritt, den wir uns dem Haus näherten, fühlte ich mich weniger in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich mußte wissen, wer Sean war, und doch mußte ich diese Frage erst einmal verschieben.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Irgendwie überraschte mich die Größe des Hauses und seine bedrückende Atmosphäre. Die hohen, lichtschluckenden Mauern erinnerten mich an ein düsteres Gerichtsgebäude, das ich vor ein paar Monaten in London gesehen hatte. Es hatte etwas Abschreckendes an sich.

Priscylla war hier, das spürte ich, aber da war... noch etwas anderes. Etwas, das sich zwischen Priscylla und mich geschoben hatte. Bevor ich dazu kam, darüber nachzudenken, hatten wir schon die Stufen erreicht, die zum Portal führten.

Der Anblick ließ mich frösteln. Vor uns erhob sich eine mächtige, eisenbeschlagene Tür, die mir wie die Zugbrücke einer mittelalterlichen Festung vorkam. Sie strahlte etwas Bedrohliches aus. Ich mußte mit Mühe die aberwitzige Vorstellung unterdrücken, daß die Tür donnernd auf uns hinabfuhr und ein berittener Trupp über uns hinwegsprengte.

»Ich glaube, es wird Zeit, daß wir uns bemerkbar machen«, sagte Sean leise. »Man könnte uns sonst noch für Einbrecher halten.«

Ich nickte langsam und versuchte, das ungute Gefühl zu unterdrücken, das mich dabei beschlich. Sean glaubte augenscheinlich immer noch, daß ich mit Mr. Baltimore bekannt war; ein Irrtum, der sich nur allzubald aufklären würde. Ich mußte eine Möglichkeit finden, Sean zum Öffnen des Türschlosses zu bewegen, ohne ihm die Wahrheit zu sagen.

»Es hat keinen Sinn, um diese Zeit zu klopfen«, sagte ich. »Wir würden mehr Verwirrung stiften als alles andere.«

Sean wirkte einen Moment verwirrt. Ich fürchtete schon, er würde mißtrauisch werden und mich unter Druck setzen wollen, aber er schien nicht in der Stimmung dazu zu sein. Wieder mußte ich mir mit Gewalt ins Gedächtnis zurückrufen, daß der Mann neben mir nicht der Sean war, den ich zu kennen glaubte.

»Und was schlagen Sie vor?« fragte er.

Meine Gedanken flogen. Ich wußte, daß ich alles auf eine Karte setzen mußte, um weiterzukommen, aber ich hatte auch Angst, mit einer spontanen Aktion sämtliche Chancen zu verspielen.

Sean stand direkt neben mir, und ich bemerkte aus den Augenwinkeln, wie er sich mißtrauisch umsah, als fürchte er, daß uns aus den Tiefen des Gartens etwas gefolgt war.

Ich hatte gesehen, wie er den Revolver in seiner linken Jackentasche verstaut hatte. Und ich wußte, daß sich eine Gelegenheit wie diese nicht mehr wiederholen würde.

Blitzschnell griff ich zu, riß den Revolver aus Seans Tasche und preßte ihn ihm in die Seite.

»Keinen Mucks«, stieß ich hervor. »Ich schwöre Ihnen, ich drücke ab, Sean.«

Sean spannte sich. Mein Angriff war zu überraschend gekommen, um ihm Zeit zur Gegenwehr zu geben. Aber ich wußte, daß ich den Riesen nicht unterschätzen durfte. Selbst mit der Waffe in der Hand fühlte ich mich nicht unbedingt sicher. Ich ahnte, daß er selbst dann noch mit mir fertig werden würde, wenn ich abdrückte.

Ich spannte den Hahn und trat zwei Schritte zurück. »Und jetzt öffnen Sie die Tür«, sagte ich.

Meine Stimme klang rauh und heiser, und die Waffe in meinen Händen zitterte. Ich hoffte, daß Sean es nicht bemerkte. Ich mußte dort hinein, koste es, was es wolle. Priscylla war irgendwo dort drinnen. Vielleicht schlief sie, vielleicht schwebte sie aber auch in akuter Lebensgefahr. Wie auch immer; ich hatte ihren Hilferuf nicht vergessen, und ich ahnte, daß ich keine Zeit mehr zu verlieren hatte.

»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Sean. »Wollen Sie mich etwa über den Haufen knallen, wenn ich mich weigere? Davon haben Sie auch nichts.« Er lachte leise. »Sie haben doch nicht das Format dazu, Mann. Geben Sie die Waffe her und lassen Sie uns die Sache vergessen.«

Er trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach der Waffe in meinen Fingern aus.

»Keinen Schritt weiter«, warnte ich ihn und hob den Revolver ein Stück höher.

Das kalte Metall wirkte wie ein Fremdkörper in meiner Hand, aber ich war nicht bereit, aufzugeben. In einer anderen Situation hätte ich Seans Kaltblütigkeit vielleicht bewundert, aber jetzt dachte ich nur daran, daß er mich unnötig aufhielt. Ich war meinem Ziel greifbar nahe, und ich ahnte, daß die Zeit drängte. Das gespenstische Erlebnis im Wald hatte mich zu der Überzeugung gebracht, daß die Gefahr, von der Priscylla gesprochen hatte, greifbar nahe war.