Sean schien mir anzusehen, daß ich zum Äußersten entschlossen war. Er ließ die Hand sinken, langsam, als überlege er, wie er mich am besten überwältigen könnte.
»Keine Tricks«, warnte ich ihn, »öffnen Sie die Tür, dann sehen wir weiter. Aber denken Sie immer daran, daß ich mit dem Revolver hinter Ihnen stehe.«
Sean zögerte sichtlich, bevor er schließlich widerstrebend nickte. »Also gut«, sagte er. »Ich werde es versuchen.«
Santers drückte Mrs. Sunday auf die Holzbank und starrte mit ausdruckslosen Augen auf sie hinab. Mrs. Sunday stieß einen erstickten Laut aus und hob abwehrend die Hände. In ihren weit aufgerissenen Augen funkelte panische Angst, und ihre Hände zitterten kraftlos.
Sie gehörte nicht zu dem Typ Frau, der schon beim Anblick eines Messers in Ohnmacht fällt, aber das, was sie in der letzten Stunde erlebt hatte, hatte ihren Widerstand gebrochen. Lyssa hatte fast erwartet, daß sie schreien oder sie mit erbitterten Vorwürfen überschütten würde, aber sie hatte sich getäuscht. Die Angst, die Mrs. Sunday gepackt hielt, schien bei ihr weder einen klaren Gedanken noch eine normale Reaktion zuzulassen.
»Laßt sie in Ruhe«, befahl Lyssa.
Santers zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück.
»Aber ich muß sie doch vorbereiten«, wandte er ein.
»Das mache ich schon«, sagte Lyssa.
Mrs. Sunday ließ die Hände sinken und starrte sie an.
»Pri«, stieß sie hervor. Ihre Stimme klang rauh. »Du mußt Hilfe holen. Die beiden sind nicht mehr bei Verstand. Hol den Doktor.« Den letzten Satz schrie sie.
Lyssa erstarrte. Es war zwar unwahrscheinlich, daß sie jemand hörte, aber sie durften kein Risiko eingehen. Wenn man sie entdeckte, bevor das Opfer vollbracht war, war der Ausgang ihres Unternehmens in Gefahr. Sie nickte Santers zu und lehnte sich zurück.
Er hatte nur darauf gewartet. Mit einem Satz war er bei Mrs. Sunday und preßte ihr die Hand auf den Mund.
»Keinen Muckser mehr«, zischte er. »Oder ich schlitze dich gleich auf.«
Mrs. Sunday versuchte, seine Hände wegzuschieben, aber sie vermochte nichts gegen Santers festen Griff auszurichten. Er ließ sie erst los, als ihr Widerstand erlahmte.
»Wir sollten uns beeilen«, sagte er nervös und warf einen Blick auf Lyssa, die sich von ihrem Platz erhoben hatte. »Wenn jemand zufällig Henesey findet ...«
»Wie sollte das wohl möglich sein«, fiel ihm Acorn ins Wort. »In Mrs. Sundays Bett wird ihn doch wohl niemand suchen, oder?« Er lachte meckernd.
Santers schüttelte ernsthaft den Kopf. »Das nicht«, gab er zu. »Aber trotzdem ...«
Lyssa schob ihn beiseite und trat an die Holzbank heran, die ihnen als Opferaltar diente. Sie spürte die Dringlichkeit ihrer Aufgabe, und sie würde sich jetzt von nichts und niemandem mehr von ihrem Vorhaben abbringen lassen.
»Wir werden beginnen«, sagte sie feierlich. »Seid ihr bereit, Helfer des Ti'lar'min?«
Acorn gesellte sich zu ihnen und baute sich an einer Seite des improvisierten Altars auf, Santers an der anderen. Es dauerte eine Weile, bis sie zur Ruhe gekommen waren. Ihre Gesichter wirkten feierlich, aber auch angespannt, und es war eine Spur von Furcht darin, als wären sie nicht sicher, den Kräften gewachsen zu sein, die sie herausfordern wollten. Selbst Acorn, der sich im allgemeinen hinter einer Maske von Gleichmut und Überheblichkeit verbarg, wirkte sichtlich nervös.
Schließlich hoben sie gemeinsam die Hände zu der Geste des uralten Ritus und nickten sich zu.
»Wir sind bereit«, sagten sie feierlich. Ihre Worte hallten leer und hohl in dem Raum wider.
Eine spürbare Spannung lag mit einemmal in der Luft. Plötzlich spürten sie, daß sie nicht mehr allein waren, als ob sich etwas zu ihnen gesellt hätte, schwach erst, aber mit einer Andeutung geballter Kraft; wie eine unsichtbare Faust, die sich über ihnen ballte.
Lyssa nickte, breitete die Hände über ihrem Opfer aus, und fragte: »Bist auch du bereit, Opfer des Ti'lar'min, die du uns aus dem Dunkel hinaus zur Helligkeit führen wirst?«
Ihre Stimme schien gar nicht mehr ihr zu gehören, die Worte flossen wie von selbst von ihren Lippen. Zwischen ihren Händen breitete sich ein irisierender Schimmer aus, ein fast unmerkliches Flackern; wie ein Elmsfeuer.
Mrs. Sunday schob sich bis an den äußersten Rand des Altars zurück und preßte sich gegen die Wand. In ihren Augen flackerte Wahnsinn, aber noch verfügte sie über genug Selbstbeherrschung, um langsam den Kopf zu schütteln. Das, was um sie geschah, mußte ihr Begriffsvermögen bei weitem übersteigen.
»Pri«, sagte sie flehend, »hör bitte auf, hör bitte sofort auf. Ich werde auch dem Doktor nichts sagen.«
Ihr Blick heftete sich an Lyssas Augen, aber was sie darin las, schien ihre Hoffnungen vollends zu zerstören.
»Das könnt ihr doch nicht tun, ihr Bestien«, keuchte sie. Ein heftiges Zittern schüttelte ihren Körper. »Ich habe euch doch nichts getan ...«
Sie brach abrupt ab, als Santers das Messer hob. Die Kerze flackerte und warf die bizarren Schatten der Männer auf die gegenüberliegende Wand. Mrs. Sunday stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund.
Das flackernde Licht gaukelte ihr irgend etwas vor, was sich aus dem Hintergrund des Raumes löste, etwas Großes, Massiges mit Hörnern und ...
»O mein Gott«, stöhnte Mrs. Sunday.
»Wehre dich nicht«, sagte Lyssa sanft. »Du bist Ti'lar'min geweiht, und er wird dich zu sich holen, um uns Freiheit und Kraft zu geben.«
»Ich bringe euch hier raus!« schrie Mrs. Sunday. »Aber schützt mich vor diesem Ding!«
Sean richtete sich wieder auf und nickte mir zu.
»Die Tür ist offen. Und was nun?«
Ich winkte ungeduldig mit dem Revolver. »Gehen Sie rein. Aber machen Sie keinen Krach. Ich möchte nicht, daß man uns frühzeitig entdeckt.«
»Frühzeitig entdeckt?« Sean kniff die Augen zusammen. »Was suchen Sie überhaupt da drinnen? Sie haben es nicht zufällig auf die Wertsachen abgesehen, nein?«
»Reden Sie keinen Quatsch«, fuhr ich ihn an. »Meinen Sie, dann würde ich mich mit Ihnen abgeben? Wenn ich hätte einbrechen wollen, hätte ich mir einen besseren Zeitpunkt ausgesucht.«
»Und als was bezeichnen Sie unser - eh - Eindringen zu nächtlicher Stunde?« wollte Sean wissen.
Er trat einen halben Schritt vor, und ich begriff, daß er mich mit seinen Anschuldigungen nur ablenken wollte. Sean hatte augenscheinlich nicht vor, sich widerstandslos von mir herumkommandieren zu lassen. Wenn ich nicht aufpaßte, war ich den Revolver bald wieder los.
»Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll«, preßte ich hervor. Ich war es leid, meine Zeit mit Reden zu verplempern; andererseits konnte ich Sean auch nicht einfach hier stehen lassen und allein weitergehen. Bevor ich nicht wußte, wer er war, mußte ich mich vor ihm in acht nehmen, als sei er der Teufel persönlich.
»Eins kann ich Ihnen jedenfalls versichern«, fügte ich hinzu, als er seinen rechten Fuß wieder ein Stück nach vorn schob, »wenn Sie auch nur noch eine falsche Bewegung machen, werde ich meine Rücksicht vergessen. Selbst, wenn nachher das ganze Haus über mich herfallen sollte, werde ich Ihnen eine verpassen. Wie würde Ihnen eine Kugel im Knie gefallen?«
Sean blieb abrupt stehen. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war er sich bewußt, daß ich keine leeren Drohungen ausstieß. Ich selbst war mir zwar nicht so sicher, ob ich von der Waffe Gebrauch machen würde, aber das stand auf einem anderen Blatt.