»Bevor wir gehen, möchte ich noch eine Kleinigkeit von Ihnen wissen«, sagte ich leise. »Wer sind Sie und was suchen Sie hier?«
»Ich dachte, Sie hätten es eilig«, wich Sean aus.
»Allerdings«, brummte ich und richtete den Lauf des Revolvers auf seinen Kopf. »Deswegen würde ich Ihnen raten, mir meine Frage ohne viel Umschweife zu beantworten.«
»Na schön.« Sean zuckte mit den Achseln. »Ich nehme zwar an, daß ich Ihnen nichts Neues sage, da Sie mich ja bereits beim Namen kannten, aber bitte sehr. Mein voller Name lautet Sean Moore, und ich bin Mitglied einer Spezialabteilung der Polizei Ihrer Majestät.«
»Scotland Yard?« entfuhr es mir.
»Ganz recht«, nickte Sean. »Sie bedrohen einen Beamten Ihrer Majestät. Wollen Sie mir jetzt nicht endlich meine Waffe wiedergeben?«
Ich schüttelte rasch den Kopf. Meine Fähigkeit, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden, hatte mich auch diesmal nicht im Stich gelassen. Ich wußte, daß Sean die Wahrheit sagte, aber das reichte noch nicht, um ihm vollständig zu vertrauen.
»Was suchen Sie hier?« fragte ich barsch.
»Das ist eine lange Geschichte«, behauptete Sean.
»Machen Sie's kurz.«
»Nun gut.« Sean hustete trocken, bevor er weitersprach. »Wir suchen jemanden«, begann er. »Einen Mann namens Santers. Seine Familie macht sich große Sorgen um ihn.«
»Und Sie glauben, daß er hier ist?«
»Allerdings«, antwortete Sean knapp.
Auch diesmal sprach er die Wahrheit, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, daß er mir etwas anderes, sehr viel Wichtigeres, verschwieg. Und ich wußte, daß ich mich auf meine Gefühle verlassen konnte.
»Erzählen Sie mir mehr davon«, forderte ich ihn auf.
»Wie Sie wollen«, sagte Sean. »Obwohl es da nicht viel mehr zu erzählen gibt. Ein Kaufmann aus Lowgreen steht seit längerem im Verdacht, an dem Verschwinden mehrerer Personen beteiligt zu sein. Sein Name ist Richardson. Kennen Sie ihn?«
Mir war der lauernde Tonfall in Seans Stimme nicht entgangen, aber ich schüttelte nur ungeduldig den Kopf. »Weiter.«
»Nichts weiter. Ich habe die Spur aufgenommen, und jetzt bin ich hier.«
Ich schüttelte den Kopf. Sean sagte die Wahrheit, aber es war nicht die volle Wahrheit, das spürte ich ganz deutlich. »Das ist noch nicht alles«, behauptete ich.
Sean machte eine ungeduldige Handbewegung. »Natürlich ist das nicht alles. Aber wenn ich Ihnen den ganzen Vorgang erzählen soll, stehen wir noch morgen früh hier.«
Ich mußte ihm Recht geben. Aber ich tat es nur widerwillig. Wenn Priscylla nicht gewesen wäre, hätte ich mich nicht mit einer so lapidaren Bemerkung abspeisen lassen.
»Dann sitzen wir in einem Boot«, sagte ich langsam. Ich war mir nicht sicher, ob meine Behauptung wirklich stimmte, aber in diesem Moment sah ich keine andere Möglichkeit, um Sean auf meine Seite zu ziehen.
»Ich bin aus ganz ähnlichen Gründen hier«, fuhr ich fort. »Auch ich suche jemanden, und ich glaube, daß man ihn hier gegen seinen Willen festhält.«
»Ach ja?« fragte Sean. »Wen suchen Sie, und wie sind Sie dahintergekommen, daß er hier sein könnte?«
Diese Frage konnte nur ein Polizist stellen. Ich überlegte kurz, ob ich sie beantworten sollte, aber ein unbestimmtes Gefühl hielt mich davon ab.
»Keine Zeit«, sagte ich knapp. »Schließlich haben wir noch eine Kleinigkeit zu erledigen, bevor es hell wird. Gehen wir.«
Sean zuckte mit den Achseln, drehte sich wortlos um und schob die Tür auf. Mit dumpfem Knarren glitt sie zurück.
Ich steckte den Revolver weg und folgte ihm. Ich hoffte nur, daß es kein Fehler war, Sean zu vertrauen.
»Hier entlang«, sagte Richardson. »Und beeilen Sie sich.«
Howard nickte und folgte ihm schweigend. Es war ihm nicht wohl dabei, durch einen Geheimgang in den Besitz von Baltimore einzudringen, aber Richardson hatte ihm versichert, daß es der schnellste und sicherste Weg war, um direkt zum Doktor zu kommen.
Der lange Fußmarsch hatte Howard mehr erschöpft, als er sich eingestehen wollte. Auch Rowlf machte keinen frischen Eindruck mehr. Die Brandverletzungen, die er sich in Durness zugezogen hatte, wären für einen weniger robusten Mann als Rowlf tödlich gewesen. Obwohl er sich in den letzten Wochen sehr geschont hatte, war er noch nicht vollständig genesen.
Howard drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sah sich in dem flackernden Licht der Fackel, die Richardson entzündet hatte, um. Vor ihnen erstreckte sich ein langer, in den Stein geschlagener Gang, der steil nach oben führte. Auf dem staubbedeckten Boden waren keine Fußspuren zu erkennen, die darauf hingedeutet hätten, daß der Gang regelmäßig benutzt wurde.
»Und hier kommen wir direkt zu Baltimore?« fragte er zweifelnd.
Richardson nickte knapp. »Wir sollten uns beeilen«, sagte er nervös. »Der Tunnel ist noch in der Zeit angelegt worden, als König Richard mit seinen Kreuzzügen beschäftigt war. Ich traue der ganzen Konstruktion nicht.«
»Ich trau' auch manchem nich«, knurrte Rowlf.
Richardson drehte sich zu ihm um. »Meinen Sie mich damit?« fragte er scharf.
Rowlf zuckte mit den Achseln.
»Ich habe Ihnen doch erklärt, warum wir den Geheimtunnel benutzen müssen«, fuhr er fort, ohne Rowlf die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. »Wenn wir am Haupteingang erscheinen, warnen wir Robert frühzeitig. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
»Wenn er überhaupt hier ist«, murmelte Howard.
»Zweifeln Sie etwa daran?« fragte Richardson.
Howard schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Schließlich deckt sich das, was Sie uns erzählt haben, genau mit unseren Vermutungen.«
»Dann können wir ja weitergehen«, stellte Richardson übellaunig fest.
Er wirkte gereizt und ungeduldig, und alle Freundlichkeit war von ihm gewichen. Howard konnte es ihm nicht verdenken. Schließlich war es nicht gerade ein beruhigendes Gefühl, einen jahrhundertealten Gang benutzen zu müssen, der noch nicht einmal durch Stempel gesichert war.
Durch den nackten Fels zogen sich Risse und Sprünge, und es war wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit, bis alles in sich zusammenbrach. Je weiter sie kamen, um so unbehaglicher fühlte sich Howard. Hätte er vorher gewußt, in welchem Zustand sich der Geheimgang befand, hätte er sich zweimal überlegt, diesen Weg zu wählen.
Aber er ahnte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Es war sowieso mehr Glück als Verstand gewesen, ausgerechnet auf Richardson zu treffen, der schon seit Jahren eng mit Baltimore zusammenarbeitete. Er gehörte zu der entschlossenen Gruppe Männer und Frauen, die sich dem Kampf gegen die Mächte der Finsternis widmete.
Um das gemeinsame Risiko so klein wie möglich zu halten, verkehrten sie für gewöhnlich nur unter Falschnamen. Richardson war Howard bislang nur unter dem Namen Winter bekannt gewesen, und er hatte nicht geahnt, daß Winter/Richardson in unmittelbarer Nähe von Baltimore lebte.
Richardson blieb stehen und deutete mit der Fackel nach vorne. »Wir sind jetzt unter dem Haus«, flüsterte er. »Diesen Teil des Gewölbes kennen nur noch Baltimore und ich. Hier war einst ein ausgedehnter Komplex -«
Er brach abrupt ab, legte den Kopf auf die Seite und trat einen Schritt vor. Howard wollte etwas sagen, aber Richardson winkte ab.
»Hören Sie es auch?« fragte er leise. In seinem Gesicht spiegelte sich Besorgnis. »Es klang ... wie ein Schrei.«
Howard schüttelte den Kopf. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts hören. Trotzdem fühlte er sich alles andere als wohl in seiner Haut. Die Enge des Ganges, und seine düstere Atmosphäre, die nur sehr unvollkommen von der blakenden Fackel erhellt wurde, zerrte an seinen Nerven. Es war durchaus nicht nötig, hier auch noch irgend etwas zu hören, um nervös zu werden.
»Das wa nich ein Schrei«, sagte Rowlf. »'s wa'n mehrere.«