In Lorimars Gesicht arbeitete es. Seine Lippen zitterten, und auf seiner Stirn erschien feiner, kalter Schweiß. Langsam, als bewege er sich nicht aus freien Stücken, sondern folge einem anderen, stärkeren Willen, wandte er sich um und ging steifbeinig über das Deck davon. Die anderen folgten ihm.
Bannermann keuchte. Er und ich schienen die einzigen zu sein, die den suggestiven Klang von Andaras Worten zwar gehört hatten, ihm aber nicht vollkommen erlegen waren. »Wie ... haben Sie das gemacht?« stammelte Bannermann. »Ich kenne Lorimar. Er ist ein verdammter Hitzkopf, aber wenn er einmal Oberwasser hat, dann bringen ihn keine zehn Pferde mehr zur Vernunft.«
Andara lächelte. »Ein kleiner Trick, mehr nicht«, sagte er. »Die Männer wollten mich nicht wirklich töten, Captain. Sie hatten nur Angst.«
Bannermann schluckte. »Aber Sie ...« Er brach ab, schüttelte verwirrt den Kopf und sah hilflos in die Runde. »Das ... das war Ihr Ernst, nicht?« fragte er. »Sie würden sich opfern, wenn es uns retten würde.«
Andara antwortete nicht.
»Aber es würde uns nicht retten«, fügte Bannerrnann hinzu.
»Nein«, sagte Andara leise. »Das Wesen, das uns folgt, läßt nie wieder von einem Opfer ab, dessen Spur es einmal aufgenommen hat.«
Ich erwartete halbwegs, daß Bannermann fragen würde, was es für ein Wesen war, das uns verfolgte, aber er tat es nicht. Und jetzt fiel mir auf, daß nicht ein Mann der Besatzung diese Frage gestellt hatte. Selbst mir fiel es seltsam schwer, mich an das Monster zu erinnern. Es war fast, als blockiere irgend etwas meine Erinnerung in diesem Punkt.
»Ändern Sie den Kurs, Captain«, sagte Andara ernst. »Und feuern Sie Ihre Männer an, wenn Sie sie retten wollen. Ich weiß nicht, wie lange ich uns noch schützen kann.«
Bannermann nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und verkrampft. »Ich ... muß mich um die Toten kümmern«, sagte er gepreßt. »Sie brauchen ein anständiges Begräbnis.«
»Dazu ist keine Zeit«, sagte Andara kopfschüttelnd. »Bahren Sie sie auf, bis wir die Küste erreicht haben. Wenn das Schiff sinkt, dann ist es ein würdiges Grab für sie.« Er schien vollkommen sicher zu sein, daß die LADY niemals mehr einen Hafen anlaufen würde. Aber wenn Bannermann über diese neuerliche Hiobsbotschaft erschrocken war, so beherrschte er sich meisterhaft. Er nickte nur, wandte sich mit einem Ruck um und ging nach vorne. Ich sah ihm nach. Ein paar seiner Männer hatten bereits damit begonnen, die Leichname von Mannings und Barton in weißes Segeltuch zu schlagen. Mein Blick glitt an ihnen vorbei zum Bug. Neben der zerbrochenen Reling lagen fünf weitere, längliche Bündel aus grobem Segeltuch. Die Männer, die dem ersten Angriff des Unheimlichen zum Opfer gefallen waren. Ich schauderte. Wie viele Menschen mußten noch sterben, ehe dieser Alptraum endlich vorüber war?
»Ich werde sie retten, Robert«, sagte Andara leise. »Ich verspreche es.«
Es bereitete mir Mühe, meinen Blick von den Toten zu lösen. »Lesen Sie meine Gedanken?« fragte ich, ohne ihn anzusehen. Die Kälte, die in meiner Stimme mitschwang, erschreckte mich selbst.
Andara schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es ist nicht schwer, deine Gefühle zu erraten, Junge. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du mich haßt.«
Jetzt sah ich ihn doch an. »Hassen? Ich hasse Sie nicht. Ich ...« Ich sprach nicht weiter. Es fiel mir seltsam schwer, mir über meine eigenen Gefühle klar zu werden.
»Vielleicht verstehst du jetzt, was ich vorhin gemeint habe«, fuhr er leise fort. »So wie hier ist es immer gewesen. Immer und überall.« Er lächelte traurig.
»Ist es so?« fragte ich. Es fiel mir schwer, weiter zu sprechen. »Hatte ... hatte Lorimar recht? Bringen Sie wirklich den Tod?«
Andaras Reaktion auf meine Worte überraschte mich. In seinen Augen glomm ein Schmerz auf, den ich mir nicht zu erklären vermochte. »Komm mit«, sagte er plötzlich.
Ich drehte mich um, um in unsere Kabine zurückzugehen, aber Andara deutete mit einer Kopfbewegung zum Achterdeck hinauf. »Laß uns dort oben reden«, sagte er. »Es ist besser, wenn ich an Deck bleibe.«
Ohne ein weiteres Wort folgte ich ihm auf das höher gelegene Achterdeck hinauf. Wir waren allein. Bannermann war irgendwo vorne auf dem Schiff, und mir fiel erst jetzt auf, wie still es hier hinten war. Die Männer mieden unsere Nähe. Andara hatte ihren Willen gebrochen und sie - auf welche Weise auch immer - gezwungen, seinen Befehlen zu gehorchen. Aber die instinktive Furcht, die sie vor ihm empfinden mußten, hatte er nicht auslöschen können. Vielleicht hatte er es auch nicht gewollt.
Andara ging mit schnellen Schritten bis zum hinteren Ende des Decks, lehnte sich gegen die Reling und kramte eine Zigarre aus der Rocktasche. Ich folgte ihm in geringem Abstand. Der Wind schien kälter zu werden, als ich neben ihn trat, und ich ertappte mich dabei, wie ich nach Norden sah und den gewaltigen, dunklen Umriß unter der Wasseroberfläche suchte. Er war nicht mehr zu sehen, aber ich wußte, daß er noch da war. Irgendwo, ganz in unserer Nähe.
Andara entzündete seine Zigarre, nahm einen tiefen Zug und blies eine Rauchwolke von sich. »Du hast mich gefragt, ob diese Männer recht haben«, begann er. »Ob ich wirklich den Tod bringe. Ich fürchte, sie haben recht, Robert. Aber vielleicht hat jetzt bald alles ein Ende.« Er tat einen weiteren Zug an seiner Zigarre und sah mich an. »Ich hatte alles anders geplant«, murmelte er. »Und es schien alles so sicher. Ich hatte große Pläne mit dir, und jetzt muß alles so schnell gehen. Erinnerst du dich an das Buch, das ich dir zeigte? Und an meine Krankheit?«
Seine Worte jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Er sprach so ruhig, als wäre überhaupt nichts geschehen. Die beiden Toten auf dem Deck unter uns schien er bereits vergessen zu haben. »Ja«, antwortete ich gepreßt. »Aber was hat das mit dem Ungeheuer zu tun?«
»Alles«, antwortete er. »Vielleicht ist es gut, daß du niemals Gelegenheit haben wirst, es zu lesen. Aber ich will dir wenigstens erzählen, was darin steht. Das Buch ist die Chronik meiner Heimat, der Stadt, in der ich geboren wurde und in der alles begonnen hat. Die Chronik von Jerusalems Lot.«
»Jerusalems Lot?« fragte ich. »Was ist das?«
»Hast du schon einmal von Salem gehört?« erwiderte Andara, ohne direkt auf meine Frage zu antworten. Ich nickte.
»Die Stadt der Hexen«, fuhr er fort. »Ein Dorf, dessen Einwohner sich dem Teufel verschrieben hatten - so behauptete man, damals. Es ist über hundert Jahre her, und die meisten haben es wohl schon vergessen. Salems Einwohner haben niemals wirklich dem Teufel gedient, aber sie beherrschten die Schwarze Magie; so wie ich.«
»Sie wurden ... getötet, nicht?« fragte ich stockend. Ich erinnerte mich. Ich hatte von Salem gehört, so wie man eben von einer solchen Sache hört. Natürlich hatte ich nicht wirklich daran geglaubt; ja, ich hatte mich sogar darüber lustig gemacht.
Aber jetzt rührten mich Andaras Worte auf seltsam unangenehme Weise an. Fast, als würden durch sie Erinnerungen geweckt. Erinnerungen, die ich nicht haben konnte ...
»Sie wurden getötet«, bestätigte er. »Die meisten jedenfalls. Die Menschen in den umliegenden Ortschaften hatten Angst vor ihnen, Robert. Sie waren nicht wirklich böse. Sie dienten weder dem Teufel noch anderen finsteren Mächten, sondern hatten sich nur ein Wissen bewahrt, das der größte Teil der übrigen Menschheit längst verloren hatte. Ein uraltes Wissen, das Wissen um Dinge, die lange vor unserer Zeit waren. Aber die anderen glaubten, sie wären mit Satan im Bunde, und eines Tages rotteten sie sich zusammen und töteten sie in einer einzigen, blutigen Nacht.«