Richardson nickte. »Also doch«, murmelte er. Er drehte sich zu Rowlf um und sah ihn zweifelnd an. »Und jetzt? Hören Sie noch etwas?«
Rowlf hob die Hand und schloß die Augen. Sein breites Gesicht blieb ausdruckslos, und Howard hätte ihn am liebsten angefahren, um zu erfahren, was hier eigentlich vorging. Aber er fürchtete, daß man ihn hören konnte.
Es war nur die Frage, wer man war.
Ein Schrei kam nicht von ungefähr. Wenn Richardson den Gang kannte, dann vielleicht auch andere. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, daß hier Gesindel hauste, dem man besser aus dem Weg ging. Womöglich bot der Geheimgang einer ganzen Gruppe von Mördern und Halsabschneidern Unterkunft. Howard mußte an die Viehdiebe denken, von denen er im Wirtshaus gehört hatte. Man schien ihnen in dieser Gegend jede Art von Gewalttat zuzutrauen.
»Jetzt wa'sn Grolln«, nuschelte Rowlf. »Erst dieser Schrei, un dann 'n Grolln.«
Richardson nickte. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, fühlte er sich höchst unbehaglich. »Irgend jemand ist in den Gewölben«, flüsterte er. Er sprach so leise, als fürchtete er, daß man ihn hören könnte.
»Aber an sich dürfte hier niemand sein ...«, fuhr er fort.
»Und schon gar nicht jemand, der schreit«, beendete Howard seinen Satz.
Richardson zuckte mit den Achseln. Er schien einen Entschluß gefaßt zu haben.
»Kümmern wir uns nicht weiter darum«, sagte er. »Wir sollten so schnell wie möglich Baltimore aufsuchen und ihm von Robert und diesen ... Geräuschen erzählen. Er wird alles weitere in die Wege leiten. Sein Personal ist außerordentlich tüchtig.«
»Einverstanden«, sagte Howard.
Er wollte sich schon wieder in Bewegung setzen, aber Richardson hielt ihn am Ärmel zurück.
»Was ... was ist das«, keuchte er.
Jetzt hörte es auch Howard. Es war ein hohes, feines Singen, das die Wände zu durchdringen schien und auf sie zuhielt. Die Fackel warf unruhige Schatten auf Boden und Wände. Ein eisiger Luftzug ließ Howard frösteln und dann ...
Ein Geräusch, wie ein entferntes Husten. Grobe, tapsige Schritte, ein dumpfes Grollen.
Howard wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Er erwartete, jeden Moment etwas vor sich im Gang erscheinen zu sehen, einen gigantischen Schatten, der auf ihn zuhielt, oder sonst ein gewaltiges, bösartiges, fremdes Wesen ...
Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Es mußte dicht vor ihnen sein. Und es kam auf sie zu.
Richardson schrie auf. Die Fackel in seiner Hand zitterte. Er stand nur wenige Schritte vor Howard, aber er war näher an der Geräuschquelle als dieser. Und womöglich sah er schon, was da auf sie zuhielt.
Er taumelte zurück. Die Fackel entglitt seinen Händen und schlug auf dem Boden auf. Es zischte, Funken stoben empor, und dann erlosch die Fackel. Dunkelheit schlug wie eine finstere Woge über ihnen zusammen.
Howard durchsuchte mit zitternden Fingern seine Jackentasche und brachte ein Streichholzheftchen zum Vorschein. Er erwartete jeden Augenblick, glühende Augen vor sich auftauchen zu sehen, von gewaltigen Klauen gepackt zu werden.
Aber nichts geschah.
Er riß das Streichholz über die Reibfläche, ein-, zwei-, dreimal, und endlich flammte der Schwefelkopf auf. Ein dünner Lichtschein fiel auf den Gangboden vor ihm und auf Richardson, der sich mit schreckerstarrtem Gesicht gegen die Wand preßte. In seinen Augen stand ein Ausdruck unglaublicher Panik. Aus seinen Mundwinkeln tropfte Speichel.
»Was war das?« fuhr ihn Howard an.
Bevor Richardson antworten konnte, erlosch das Streichholz mit einem letzten Aufflackern. Howard stieß einen unterdrückten Fluch aus und entzündete ein zweites Zündhölzchen.
In seinem Lichtschein suchte er die Fackel und steckte sie mit Hilfe weiterer Streichhölzer an. Rowlf kümmerte sich in der Zwischenzeit um Richardson. In dem Gesicht des Kaufmanns zuckte unkontrolliert ein Muskel, und in seinen Augen standen Tränen.
»Was war das?« fragte Howard nochmals.
»Ich ... ich weiß nicht«, stöhnte Richardson. »Ein ... ein ... ich weiß es nicht ...«
Er schluckte krampfhaft, schüttelte Rowlfs Hand ab und löste sich von der Wand. Seine Bewegungen hatten etwas Fahriges und Unbestimmtes, wie es Howard schon mehrmals an Menschen beobachtet hatte, die einen schweren Schock erlitten hatten. Das, was er gesehen hatte, war jedenfalls keine natürliche Erscheinung gewesen.
Und womöglich war es noch immer in der Nähe ...
»Lassen Sie mir eine Minute«, bat er. »Ich muß ... erst wieder zu mir kommen.«
»Ich hoffe, uns bleibt soviel Zeit«, murmelte Howard.
Er versuchte seine Nervosität zu überspielen, aber auch ihm steckte der Schreck in den Gliedern. Die Fackel in seiner Hand zitterte merklich, und sein Herz schlug wie rasend. Er hoffte nur, daß das, was Richardson zu Gesicht bekommen hatte, nicht noch einmal auftauchte.
»Wir müssen ... weiter«, stieß Richardson hervor. Er schien genauso wie Howard zu spüren, daß sie besser so schnell wie möglich von hier verschwanden.
»Was wa'n das?« fragte Rowlf.
»Ersparen Sie mir eine Beschreibung«, flüsterte Richardson. Er schlug die Hände vor sein Gesicht. »Mein Gott.«
Howard nickte schweigend. Er ahnte, daß der Schock den Kaufmann fast um den Verstand gebracht hatte. Vielleicht war es besser, wenn er verschwieg, was er gesehen hatte.
Er bedeutete Rowlf mit einer Handbewegung, Richardson zu helfen, und setzte sich dann, mit der Fackel in der Hand, wieder in Bewegung. Seine Sinne waren aufs äußerte gespannt, aber er hörte und sah nichts, was auf die Anwesenheit irgendeiner Monstrosität hindeutete.
Sie erreichten eine Abzweigung. Rechts führte ein weiterer Gang wieder in die Tiefe, während ihnen links eine Tür den Weg versperrte. Howard vermied es krampfthaft, in den dunklen Gang zu blicken.
Er rüttelte an der Tür, aber sie rührte sich nicht.
»Und nun?« fragte er nervös.
Richardson holte einen Schlüssel hervor, reichte ihn wortlos an Rowlf weiter, und lehnte sich dann schweratmend an die Wand. Sein Gesicht war noch immer grau und verkrampft. Er brauchte unbedingt Ruhe.
Rowlf steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn ohne Mühe um. Er stieß die Tür auf und betrat als erster den darunterliegenden Raum. Howard stieß Richardson hinterher und folgte als letzter.
»Schließ wieder ab«, befahl er Rowlf.
Rowlf handelte, ohne zu zögern. Er warf die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel um.
Howard atmete auf. Er brauchte nicht den anderen ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß sie genauso erleichtert waren wie er selbst, den Gang hinter sich gelassen zu haben.
Es war nur die Frage, ob die Tür wirklich dem standhalten würde, was Richardson gesehen hatte ...
Es dauerte einen Moment, bis sich Howard auf seine neue Umgebung eingestellt hatte. Der Raum, in dem sie herausgekommen waren, war vollkommen fensterlos und wirkte genauso alt wie der Gang, der sie hierhingeführt hatte. Auch sein Boden war mit Staub bedeckt. Kaum noch erkenntliche Fußspuren kündeten davon, daß er zumindest gelegentlich aufgesucht wurde.
Die Luft war abgestanden und schal, und Howard hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Er hielt die Fackel höher und suchte nach einem Eingang, durch den sie das Innere des Hauses betreten konnten. Aber bis auf die Tür, durch die sie den Raum betreten hatten, umgaben sie die glatten Steinwände wie die Mauern einer uneinnehmbaren Festung.
»Wie kommen wir weiter?« fragte er mühsam beherrscht.
Richardson stierte ihn teilnahmslos an. »Wieso?« brachte er hervor.
Seine Stimme klang geistesabwesend, und sein Blick irrte ziellos über die vom flackernden Licht beleuchteten Wände.
»Wir müss'n zu Baltimore«, fuhr ihn Rowlf an.
Er packte den Kaufmann bei den Schultern und schüttelte ihn. »Mann!« sagte er eindringlich. »Reiß dich zusamm'! Wir müss'n weiter.«