»Richardson!« schrie Howard. »Um Gottes willen! Passen Sie doch auf!«
Rowlf war mit ein paar Sätzen bei ihm und riß ihn zurück. Seine kräftigen Arme schoben den widerstrebenden Kaufmann in sichere Entfernung auf den Gang.
»Laß mich los«, herrschte ihn Richardson an und versuchte, seinen Arm abzustreifen. »Du tust mir weh.«
»Se könnt'n fallen«, brummte Rowlf. »Müssense uns so erschrecken, Mann?«
»Laß ihn los«, sagte Howard rasch.
Rowlf brummte irgend etwas, zuckte mit den Achseln und trat einen Schritt zurück.
»Ich habe sie gesehen«, stieß Richardson hervor. In seinem Blick spiegelte sich ein nervöser, gehetzter Ausdruck.
»Wen haben Sie gesehen?« fragte Howard scharf.
»Zwei ...«, murmelte er. »Es waren zwei Männer.«
Er lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. Mit einer fahrigen Bewegung holte er ein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die Stirn. Er wirkte vollkommen erschöpft, und Howard ahnte, daß es nicht viel Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen.
Er versuchte es trotzdem.
»Was für Männer waren es?« fragte er.
»Ein ... großer. Ein wahrer Riese. Den ... den anderen habe ich kaum gesehen ...«
Richardson stockte und sah Howard geradewegs an. Seine Augen waren weit aufgerissen, als sähe er nicht um, sondern etwas anderes.
»Mein Gott«, flüsterte er. »Sie sind die Treppe runter. In den Keller. Wo dieses ... Monster lauert ...«
Er schlug die Hände vors Gesicht. Durch seinen Körper lief ein Zittern.
»O, mein Gott«, flüsterte er nochmals.
Howard nickte grimmig. Er wandte sich an Baltimore, der sich zu ihnen gesellt hatte.
»Ich glaube, uns bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls den Keller aufzusuchen«, preßte er hervor. »Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir dort auf Robert stoßen.«
Mein Herz pochte wild und heftig. Der Revolver in meiner Hand kam mir mit einemmal lächerlich vor, aber ich war trotzdem nicht bereit, ihn wegzustecken.
»Warum hat dieser Narr so geschrien?« fragte ich. »Meinen Sie, daß er uns gesehen hat?«
»Darauf können Sie Gift nehmen«, knurrte Sean. Er deutete auf den Eingang zum Keller, den wir gerade hinter uns gelassen hatten. »Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir gleich Besuch bekommen. Wissen Sie, wer das war?«
Ich schüttelte den Kopf. Alles, was ich wollte, war Priscylla. Ich spürte mit jeder Faser meines Körpers, daß sie hier war, vielleicht sogar hier unten im Keller, ganz in meiner Nähe.
»Es war Richardson«, stieß Sean hervor. »Der Kaufmann, dessen Spur mich zu Balitmore führte. Seltsamer Zufall, nicht wahr?«
»Es ist mir ganz egal, wie der Mann heißt«, sagte er ungeduldig. »Wir müssen weiter. Ich spüre ... Ich meine, ich bin sicher, daß die Person, die ich suche, hier unten ist.«
»Wäre vielleicht ganz nett, wenn Sie mir endlich sagen würden wen Sie suchen. Schließlich sitzen wir in einem Boot.«
Ich zögerte. Ein unerklärliches Gefühl hielt mich davor zurück, Seans Frage ohne weiteres zu beantworten, aber andererseits sah ich keinen logischen Grund ihm Pricylla noch länger zu verschweigen.
»Ich suche eine junge Frau«, sagte ich zögernd. »Sie heißt Priscylla.«
»Eine Frau.« Sean grinste. »Dann wird mir alles klar. Wenn sich ein Mann wie Sie so verhält, ist er entweder hinter einer Million Pfund oder hinter einer Frau her.«
»Es ist nicht so, wie Sie denken -«
»Was ich denke, ist ganz egal«, fiel mir Sean ins Wort. »Wir sollten machen, daß wir weiterkommen. Bevor Richardson mit ein paar Mann Verstärkung hier unten auftaucht.«
Er blinzelte und versuchte die Dunkelheit vor uns mit Blicken zu durchdringen.
»Ich hoffe nur, daß das hier keine Sackgasse ist«, fuhr er fort. »Wenn wir Glück haben, hat der Keller noch einen Ausgang zum Garten.«
Ich achtete nicht weiter auf ihn. Mit ausgestreckter linker Hand tastete ich mich an der Wand entlang; der Revolver lag schußbereit in meiner Rechten. Das Gefühl einer unbestimmten Erwartung verstärkte sich. Sehr wohl war mir nicht dabei, mich durch die Dunkelheit vorzutasten. Ich hatte noch nicht das Erlebnis mit der Rattenfrau vergessen.
Und hier unten gab es Ratten.
Meine überreizte Phantasie gaukelte mir tapsende kleine Füße vor, die über den kalten Boden huschten. In der Dunkelheit glaubte ich, winzige, stechende Augen zu sehen, die jede meiner Bewegungen verfolgten. Ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.
In das Geräusch unserer Schritte mischte sich etwas anderes; ein heller, singender Laut, zu schwach, um seinen Ursprungsort zu erkennen, aber laut genug, um mich abrupt anhalten zu lassen.
»Hören Sie das auch?« flüsterte ich.
Sean prallte gegen mich. Ich rutschte ein Stück von der Wand weg und kämpfte einen Moment lang um mein Gleichgewicht. Sean packte meinen Arm und hielt mich fest.
»Was ist das?« fragte er.
Ich zuckte mit den Achseln. Es dauerte eine Sekunde, bevor ich daran dachte, daß Sean meine Geste in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
»Keine Ahnung«, sagte ich leise.
Das Geräusch hatte inzwischen abgenommen und war dann ganz verstummt. So sehr ich mich auch bemühte, ich hörte nichts mehr. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Es war womöglich nichts weiter als ein Windstoß gewesen, der durch ein offenes Kellerfenster gefahren war und in dem langen Gang widerhallte.
»Gehen wir weiter«, sagte Sean mit rauher Stimme. »Richardson wird schon auf dem Weg in den Keller sein. Ich habe keine Lust, ihm meine Anwesenheit zu erklären.«
Ich setzte mich wieder in Bewegung. Obwohl ich mir sicher war, daß Priscylla ganz in der Nähe war, war der innere Kontakt zu ihr wie abgerissen. Seit Wochen fühlte ich mich durch eine unbekannte Kraft vorwärtsgetrieben, und nun, kurz vor dem Ziel, war sie versiegt.
Ich fühlte nichts weiter als einen dumpfen Druck im Kopf und Nervosität, die durch Seans Anwesenheit noch verstärkt wurde. Mit jedem weiteren Schritt begann sich mein Unbehagen zu verstärken. Ich konnte mich nicht des Eindrucks erwehren, daß ich geradewegs in eine Falle lief.
Es ging so schnell, daß ich zu spät die Gefahr begriff, in der ich schwebte. Ein fernes Geräusch, so leise, daß ich es kaum wahrnahm, schien die Gemäuer zu durchdringen. Es war dem hellen Singen nicht unähnlich, und doch anders, durchdringender und ... gewaltiger.
Ich verlangsamte meine Schritte und wollte Sean auf das Geräusch aufmerksam machen, aber dann ...
Es war fast so, als blicke ich wieder in den Spiegel.
Vor meinem inneren Auge tauchte eine entsetzliche Gestalt auf. Skeletthafte Züge verzerrten sich zu einem höhnischen Grinsen, krallenartige Hände streckten sich mir entgegen.
Ich stöhnte auf, riß den Revolver hoch und zog den Abzug durch. Die Schüsse hallten durch die Dunkelheit. Die feurigen Mündungsblitze rissen für winzige Augenblicke das vollkommene Schwarz um mich herum auf -
- und erhellten etwas ... etwas Großes, Massiges, das wie eine gigantische Spinne vor mir im Gang hockte. Für einen winzigen Augenblick sah ich die Alptraumgestalt mit der Deutlichkeit, mit der man in einem schweren Gewitter für die Dauer eines Blitzes ein fernes Haus sieht.
Ich wollte schreien, aber ich konnte es nicht.
Der Kopf eines Ebers, mit gigantischen Hauern ...
Wieder und wieder schoß ich, bis der Hammer gegen die leere Trommel schlug. Und jeder Mündungsblitz riß eine feurige Bahn durch die Dunkelheit und beleuchtete die alptraumhafte Gestalt vor mir.
Dann war es vorbei.
Von einer Sekunde auf die andere ließ der fürchterliche Druck nach, der meinen Schädel zusammengepreßt hatte. Die Erschöpfung ließ mich einen Schritt vorwärtstaumeln.
Eine Woge der Erleichterung brach über mir zusammen. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und meine Knie zitterten, aber ich spürte deutlich, daß die Vision zu Ende war. Was auch immer da vor mir im Gang gelauert hatte, es war verschwunden.