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Ich wollte mich zu Sean umdrehen und ihn fragen, ob auch er es gesehen hatte, aber ich kam nicht mehr dazu.

Ein Geräusch vor mir lenkte mich ab.

Irgend etwas krachte fürchterlich, dann stoben Funken auf. Eine Tür wurde aufgerissen. Blendende Helligkeit überschüttete mich. Eine dunkle Gestalt erschien im Rahmen, kaum zwei, drei Meter von mir entfernt.

Ich war viel zu verwirrt, um reagieren zu können. Fassungslos starrte ich auf den Dolch, den der Mann vor mir in den Händen hielt. Sein bleiches Gesicht war zu einer Grimasse des Schreckens verzerrt. In seinen Augen funkelte Wahnsinn.

»Santers«, keuchte Sean hinter mir.

Der Mann sah an mir vorbei. Er schien Sean erst jetzt entdeckt zu haben. Seine Augen weiteten sich. Speichel rann seine Mundwinkel hinab.

»Andara«, keuchte er. Er hob den Dolch. Seine Bewegungen wirkten hölzern und abgehackt und trotzdem zielstrebig.

Für eine endlose Sekunde war ich wie gelähmt vor Schrecken. Santers war der Mann, hinter dem Sean her war... Sean!?! War der Mann in meiner Begleitung wirklich Sean, oder war es Roderick Andara, mein Vater?

Ich weigerte mich, Santers Ausruf für wahr zu nehmen. Ich hatte Sean gefragt, wer er war, und er hatte die Wahrheit gesagt. Wenn er gelogen hätte, wenn sich Andara in ihm verbarg, hätte ich es spüren müssen.

Santers machte einen Schritt auf mich zu. Der Dolch in seiner Hand blitzte auf. Ich wußte, daß er es nicht auf mich abgesehen hatte, und ich wußte, daß Priscylla hinter ihm im Raum war. Mit einem Satz war ich an ihm vorbei... und erstarrte.

An der gegenüberliegenden Wand stand ein hölzerner Altar, auf dem eine Frau lag. Sie wies keine Zeichen äußerer Gewaltanwendung auf, aber in ihrem Blick las ich Entsetzen und unvorstellbares Grauen.

Priscylla stand neben ihr. Sie hielt, wie Santers, einen Dolch in der Hand. Ihr Gesichtsausdruck wirkte starr und kalt. Die Spitze des Dolches zielte auf die Kehle der Frau. Als sie mich bemerkte, drehte sie sich langsam zu mir um. Ihre halb geschlossenen Augen öffneten sich vollends, und sie musterte mich mit einem Blick voller Haß und Verachtung.

»Kommst du also auch?« fragte sie. »Glaubst du, das Opfer aufhalten zu können, daß wir Ti'lar'min darbringen werden?«

»Priscylla«, krächzte ich.

Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Ich hatte damit gerechnet, Priscylla in Gefahr vorzufinden. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie an Stelle der fremden Frau auf dem Altar gelegen hätte. Aber daß sie mich wie einen Feind empfing ...

»Acorn«, zischte Priscylla.

Ihre Haare flatterten bei der abrupten Kopfbewegung, mit dem sie sich dem Mann zuwandte, der auf der anderen Seite des Altars stand. Ich hatte ihm bis jetzt noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Auf den ersten Blick sah er vollkommen normal aus, aber bei genauerem Hinsehen wirkte er auf eine schwer zu beschreibende Art krank.

Acorn bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Er machte aus dem Stand einen Satz auf mich zu. In seinen Bewegungen war etwas ungeheuer Kraftvolles, das nicht zu seinem unscheinbaren Korperbau passen wollte.

Es dauerte einen Moment, bevor ich begriff, daß er es auf mich abgesehen hatte. Ich hielt noch immer den leergeschossenen, vollkommen nutzlosen Revolver in der Hand. Selbst, wenn ich Munition mit mir geführt hätte, hätte ich keine Zeit mehr gefunden, sie einzulegen.

Mit einem verzweifelten Satz sprang ich zur Seite. Acorn taumelte, von seinem eigenen Schwung getragen, an mir vorbei. Aber ich bekam keine Zeit zum Atemholen.

Mit einem Aufschrei fuhr er wieder herum. Irgend etwas blitzte in seiner Hand und fuhr scharf und reißend an meiner Wange entlang.

Ein Messer!

Ich hatte nicht einmal gesehen, daß er die Waffe hervorgerissen hatte. Ein scharfer Schmerz lähmte meine linke Gesichtshälfte, warmes Blut lief über meine Wange.

Er setzte nach. Mit wütenden Stichen trieb er mich gegen die Wand. Ich hatte alle Mühe, der tanzenden Klinge auszuweichen.

Er ließ mir keine Gelegenheit für einen Gegenangriff oder ein weiteres Ausweichmanöver. Instinktiv versuchte ich mich zu wehren, aber Acorn war ein wahrer Meister in der Handhabung seiner Waffe. Ich duckte mich unter dem nächsten Stich weg und versuchte seitwärts zu entkommen, aber er war schneller. Seine Faust zuckte vor und schleuderte mich zurück.

Ich stieß keuchend die Luft aus. Mit der Wand im Rücken hatte ich kaum mehr eine Chance, einem schnellen Messerstich zu entgehen. Vor meinen Augen tanzten blutige Schleier. Die Luft brannte wie Feuer in meinen Lungen.

»Bring ihn um!« schrie Priscylla.

Acorn war für einen Moment abgelenkt. Ich riß den Revolver hoch und schlug ihm den Kolben ins Gesicht. Er taumelte, riß das Messer hoch und stürmte wieder auf mich zu. Funken stoben auf, als Metall auf Stein traf und die Klinge eine fingertiefe Scharte in die Wand riß.

Ich packte seinen Arm, bog ihn nach hinten und stieß ihn von mir. Bevor er sich fangen konnte, schickte ich ihn mit ein paar wuchtigen Faustschlägen zu Boden.

Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Priscylla war wichtiger. Ich wandte mich um, wollte auf sie zugehen ...

Einen fürchterlichen, schrecklichen Moment begegneten sich unsere Blicke. Und irgend etwas geschah mit mir ...

Der Raum schien sich um mich zu drehen. Dumpfe Übelkeit stieg aus meinem Magen empor, und meine Arme und Beine fühlten sich mit einemmal taub und schwer an. Meine Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Die Anstrengung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war fast zuviel. Mein Puls raste. Das Blut rauschte in meinen Ohren, und vor meinen Augen begannen graue Schatten zu treiben.

Aber ich gab nicht auf. Ich konnte nicht zulassen, daß Priscylla das Opfer vollzog. Ich durfte nicht zulassen, daß sie Kräfte rief, denen wir alle nicht gewachsen waren. Und ich durfte nicht zulassen, daß sie eine unschuldige Frau umbrachte ...

Der Dolch in ihrer Hand bewegte sich, als wäre er zu eigenem Leben erwacht. Durch ihren Körper lief ein Zittern. Für einen Moment, für einen winzigen Augenblick nur, ließ ihre Konzentration nach ...

Ich spürte meine Chance, und ich war willens, sie zu nutzen. Mit aller Kraft, die mir noch geblieben war, kämpfte ich gegen die unsichtbaren Fesseln, die meinen Verstand umklammerten.

Es kam dem Versuch gleich, aus vollem Lauf gegen eine Steinmauer zu springen, um sie zum Einsturz zu bringen.

Furchtbare Gewalten schleuderten mich zurück und drohten mich zu vernichten.

Ich schrie auf. Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Krampfhafte Schmerzen durchliefen meinen Geist und versuchten, ihn in einen Strudel mit sich zu reißen. Ein fast unerträglicher Druck drohte meinen Kopf zu sprengen.

Ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an, aber es war wie das müde Aufflackern einer Kerze gegen eine rauschende Sturmflut. Gewalten, jenseits aller Vorstellungskraft, zerrieben mich wie Mühlsteine zwischen sich. Fast schien es, als bemerkten sie meinen Widerstand nicht einmal.

Kalte Wut begann in mir aufzusteigen; Wut, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte. Ich stieß zu. Immer und immer wieder, ohne zu wissen, was ich da eigentlich tat.

Und plötzlich war es vorbei.

Der Schleier aus Schmerz und Betäubung, der sich über mein Bewußtsein gelegt hatte, zerriß. Ein Gefühl von Kraft und Stärke durchpulste mich. Ich ließ nicht nach. Ich drängte den fremden Willen, der mich gelähmt hatte, weiter zurück.

Es dauerte einen Moment, bevor ich wieder in der Lage war, mich meiner Umgebung zu widmen. Ich hatte das Gefühl, aus einem Alptraum heraus in einer viel grauenhafteren Wirklichkeit zu erwachen.

Sean stand vor mir, zwischen Priscylla und mir. Seine Hände umklammerten ihren Hals. Der Dolch, den Priscylla noch immer in der Hand hielt, zitterte über seinem Rücken, als wolle sie ihn jeden Moment herabfahren lassen.