»Unverändert«, sagte ich nach einer Weile. »Das Fieber steigt nicht weiter, aber es geht auch nicht zurück. Es wird Zeit, daß wir ihn zu einem guten Arzt bringen.«
Bannermann nickte. »Ich lasse sämtliche Segel setzen, sobald dieser verfluchte Nebel gewichen ist. In vierundzwanzig Stunden sind wir in London, und eine Stunde später ist er in einer Klinik.« Er lächelte mit einem Optimismus, den keiner von uns beiden wirklich noch empfand. »Sie werden sehen«, fügte er hinzu, »daß er in einer Woche wieder auf den Beinen und guter Dinge ist.«
Er lächelte abermals, drehte sich mit einem Ruck um und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund, um irgendein Kommando über das Deck zu brüllen. Hoch oben in der Takelage reagierten ein paar seiner Matrosen darauf und begannen emsig hin und her zu kriechen. Ich wußte nicht, was sie taten, und es interessierte mich auch nicht. Die LADY OF THE MIST war das erste Schiff, auf das ich in meinem Leben einen Fuß gesetzt hatte, und es würde wahrscheinlich auch das letzte sein. Ich habe Schiffe nie gemocht, und das Meer mit seiner Weite und Einsamkeit flößte mir Furcht ein. Sicher - ich war dreitausend Meilen von meiner Heimat entfernt, und die einzige Möglichkeit, jemals dorthin zurückzukehren, war nun einmal ein Schiff. Aber ich war mir noch gar nicht so sicher, ob ich jemals wirklich nach Amerika zurückkehren würde.
Ich verdrängte den Gedanken, sah Bannermann noch eine Zeitlang zu, wie er seine Matrosen über das Deck scheuchte, und wandte mich dann um. Die Kälte begann allmählich mehr als nur unangenehm zu werden, und ich verspürte ein verräterisches Kratzen im Hals. Bannermann hatte wohl recht - ich würde mich nur erkälten, wenn ich länger an Deck blieb. Aber unsere Kajüte war geheizt, und ein kräftiger Grog würde den Rest besorgen.
Die ausgetretenen Stufen knarrten hörbar unter meinem Gewicht, als ich die kurze Holztreppe zum Deck hinabging. Das Geräusch erschien seltsam gedämpft, und wieder fiel mir die sonderbare Stille auf, die sich über dem Schiff ausgebreitet hatte. Ich blieb stehen, nickte einem vorübereilenden Matrosen grüßend zu und trat - ohne eigentlich so recht zu wissen, warum - abermals an die Reling.
Das Meer war verschwunden. Die verkrustete Bordwand der LADY OF THE MIST schien anderthalb Meter unter mir in einer grauen Wolkenmasse zu verschwinden, und ein seltsamer, nicht einmal direkt unangenehmer Geruch wehte von der Wasseroberfläche herauf. Nicht der Salzwasseratem des Meeres, den ich nach fünfunddreißig Tagen schon gar nicht mehr bewußt wahrnahm, sondern etwas anderes, vollkommen Fremdes. Ich legte die Hände auf die Reling, beugte mich vor und versuchte, wenigstens einen Schimmer der Wasseroberfläche zu sehen, aber der Nebel war zu dicht. Es war absurd: das Schiff hieß LADY OF THE MIST - Herrin des Nebels - aber im Moment war es seine Gefangene.
Als ich mich umwandte, glaubte ich eine Bewegung zu erkennen: Ein kurzes, rasches Zucken, als griffe etwas ungeheuer Großes und Massiges aus der grauen Masse, etwas, das grün und glitzernd und mit winzigen schillernden Schuppen bedeckt war. Ich erstarrte. Von einer Sekunde auf die andere begann mein Herz zu hämmern, so rasch, wie mir trotz der Kälte der Schweiß ausbrach. Die Erscheinung verging so schnell, wie sie gekommen war, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte, oder ob mir meine überreizten Nerven nur einen Streich spielten.
Und trotzdem verspürte ich in diesem Moment eine Furcht, wie ich sie noch nie in meinem Leben gefühlt hatte.
Meine Hände zitterten noch immer, als ich die niedrige Tür im Achteraufbau öffnete und zu unserer Kajüte hinabstieg.
Das Zimmer war still. Vor den Fenstern lagen schwere hölzerne Läden und sperrten das Sonnenlicht aus, und das Feuer, das im Kamin loderte, verbreitete zwar eine erstickende trockene Wärme, aber seltsamerweise kaum Licht. Trotzdem war es nicht dunkel. Ein unwirklicher grüner Schein lag in der Luft; Helligkeit, die aus keiner bestimmten Quelle, sondern aus dem Nirgendwo zu kommen schien, und in das Knacken und Prasseln des Feuers mischte sich ein dumpfes, geisterhaftes Wispern, ein Geräusch wie der Laut einer fernen Meeresbrandung, nur anders, auf unbestimmte Weise drohender und33 durchdringender. Feindselig.
Vier Menschen hielten sich in dem kleinen Raum auf. Es waren eine Frau, zwei Männer und eine grauhaarige, in Lumpen gehüllte Gestalt, deren Geschlecht nicht eindeutig zu erkennen war. Das Gesicht unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze war ein Labyrinth grauer Schatten und tief eingegrabener Furchen und Runzeln, und das sackähnliche Gewand verhüllte den Körper vollkommen. Das einzige, was an der Gestalt zu leben schien, waren die Augen. Es waren grausame Augen; schmal, dunkel, beinahe ohne Pupillen, und von einem diabolischen Feuer erfüllt.
»Sie kommen«, sagte die Frau. Sie saß - wie die drei anderen - starr und fast unnatürlich ruhig hinter dem runden Tisch, der mit den vier Stühlen und dem Kamin die gesamte Einrichtung des Zimmers bildete.
»Wie viele?« fragte einer der Männer.
Es dauerte einen Moment, ehe die Frau antwortete. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber einem aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, daß sie nicht blinzelte. Und ihr Blick schien ins Leere zu gehen.
»Zu viele«, sagte sie nach einer Weile. »Hunderte. Ich ... kann keine Einzelheiten erkennen. Aber sie hassen.«
»Sie hassen.« Die grauhaarige Gestalt regte sich, und jetzt, als sie sprach, konnte man hören, daß es eine Greisin war. Eine dürre, fast bis auf den Knochen abgemagerte Hand tauchte unter den Lumpen ihres Gewandes auf, legte sich auf die Tischplatte und kroch wie eine fleckige, fünfbeinige Spinne auf die Frau zu. Das Gesicht der Frau zuckte, als die Hand die ihre berührte, und die widerstand im letzten Moment der Versuchung, den Arm zurückzuziehen.
»Sie hassen«, wiederholte die Alte.
»Uns?«
Die Frau nickte. »Ja. Aber ich weiß, was du sagen willst. Es geht nicht. Wir können ihren Haß nicht umdrehen, um ihn für uns zu nutzen. Er ist zu stark. Jemand ... lenkt sie.«
Wieder senkte sich Schweigen über den Raum, nur das unwirkliche Wispern der Geisterstimmen wurde ein wenig stärker. Das grüne Licht begann zu flackern, und der Schein des Feuers im Kamin breitete sich wie Blut im Zimmer aus und verwandelte die Gesichter der vier Menschen in teuflische Grimassen.
»Dann müssen wir fliehen«, sagte die Alte schließlich.
»Es ist zu spät«, wisperte die Frau. Ihre Lippen bewegten sich kaum noch beim Sprechen, und auf ihrer Stirn perlte Schweiß. »Sie sind ... schon zu nahe. Und sie kommen von überallher. Sie sind fast hier.« Ihre Stimme begann zu beben, und ein ganz schwacher Unterton von Hysterie schwang in ihren Worten mit, als sie weitersprach. »Sie ... haben Waffen dabei. Und Fackeln. Sie ... werden ein Pogrom veranstalten.«
Einer der beiden Männer stand auf; so heftig, daß sein Stuhl nach hinten kippte und auf dem Boden zerbrach. »Warum sitzen wir dann noch hier herum?« schrie er. »Wir müssen die anderen warnen und den Widerstand organisieren! Sie sollen nur kommen, diese ...«
»Du bist ein Narr, Quenton«, unterbrach ihn die Greisin. Ihre Stimme klang kalt, als interessiere sie das, was sie soeben gehört hatte, gar nicht. »Du willst kämpfen?« Sie lachte, wandte den Kopf und deutete mit ihrer dürren Hand auf die Tür. »Dann geh. Geh und kämpfe! Es sind Hunderte, und wir sind kaum vierzig. Oder flieh, wenn du den Rest deines Lebens damit verbringen willst dich wie ein Tier zu verkriechen.«
Quenton starrte die Alte einen Atemzug lang mit verbissener Wut an. »Und was sollen wir tun, deiner Meinung nach?« fragte er gepreßt. »Hier sitzen bleiben und uns abschlachten lassen wie Mastvieh? Da sterbe ich lieber mit der Waffe in der Hand.«
»Wir können gar nichts mehr tun«, erwiderte die Alte ruhig. »Wir hätten etwas tun können, als wir Verdacht schöpften, daß Roderick uns hintergeht. Jetzt ist es zu spät.«