Mit einer wütenden Bewegung verschaffte ich mir Luft, packte einen der Untoten beim Kragen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die anderen. Für eine halbe Sekunde war ich frei.
Aber es gab keinen Ausweg. Die Toten versperrten das Deck vor mir wie eine lebende Mauer, und hinter mir war nichts als drei Schritte freier Raum und die Reling des Schiffes, vor der das Meer und die tödliche Riffbarriere lauerten. Selbst wenn ich den Sprung ins Wasser gewagt hätte, und selbst wenn ich Yog-Sothoth entkommen würde, hätte mich die Strömung gegen die Riffe geschleudert und zerschmettert.
Als wären meine Gedanken ein Stichwort gewesen, rückte die Mauer der Untoten näher. Wieder griffen ihre Hände nach mir, zerrten an meinen Kleidern und tasteten nach meinen Augen. Ich schlug einen von ihnen nieder, verdrehte einem anderen den Arm und trat von unten mit dem Knie gegen sein Ellenbogengelenk. Aber mein Gegner war kein lebender Mensch. Er fühlte keinen Schmerz, und sein anderer Arm griff im gleichen Moment nach mir und zerrte an meiner Jacke.
Robert! Das Amulett! WIRF ES WEG!
Ich verstand Andaras gedankliche Stimme kaum mehr. Schläge und Tritte prasselten unaufhörlich auf mich nieder, und meine Gegenwehr wurde jetzt rasch schwächer. Ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen erfüllte meinen Schädel, und der Schmerz wurde nach und nach zu einem Gefühl der Betäubung, das meine Glieder lähmte.
Das Amulett! Wirfes weg, Robert, oder sie töten dich!
Ich brach in die Knie, krümmte mich und versuchte, das kleine, fünfeckige Amulett, das mir Andara gegeben hatte, aus der Rocktasche zu zerren. Irgend etwas traf meinen Kopf. Ich fiel vollends vornüber, wälzte mich instinktiv auf den Bauch und versuchte kraftlos, die Schläge der Untoten abzuwehren. Allmählich begannen mir die Sinne zu schwinden. Blut füllte meinen Mund, und die Gestalten der Angreifer verschwammen mehr und mehr hinter einem roten, wogenden Vorhang, der sich vor meinen Blick schob. Meine Hand grub in der Tasche. Ich fühlte etwas Hartes, Warmes, zerrte es hervor und schloß die Faust darum.
Wirf es weg!
Irgendwie kam ich wieder auf die Füße. Ich war unfähig, zu denken oder meine Bewegungen bewußt zu steuern, aber in meinen Gedanken war plötzlich eine andere, stärkere Kraft, die mich zwang, aufzustehen und unter den Schlägen der Untoten auf die Reling zuzuwanken.
Es war wie ein Spießrutenlauf. Ich fiel, kämpfte mich noch einmal hoch und taumelte kraftlos gegen die Reling. Eine erstarrte Totenhand klammerte sich an meinen Arm und versuchte, mir das Amulett zu entreißen. Ich schüttelte sie ab, mobilisierte noch einmal alle Kräfte - und schleuderte das Sternamulett mit aller Macht von mir. Es flog in hohem Bogen auf das Meer hinaus, traf blitzend auf die Wasseroberfläche und versank in einem Strudel aus Licht und Schaum.
Die Untoten erstarrten im gleichen Augenblick, in dem das Amulett versank. Die Hände, die sich in mein Haar und meine Kleider gekrallt hatten, glitten ab. Das Feuer in ihren Augen erlosch, und die Körper stürzten zu Boden wie Marionetten, deren Fäden alle auf einmal durchtrennt worden waren.
Und im gleichen Moment stürzte sich Yog-Sothoth mit aller Macht auf das Schiff. Ich fiel, fing den Sturz im letzten Augenblick mit den Händen ab und starrte durch einen Nebel von Blut und Übelkeit zum Achterdeck hinab.
Andara wankte. Der unsichtbare Schild, der ihn bisher vor den Angriffen des Monsters geschützt hatte, war erloschen. Er taumelte, fiel gegen die Reling und versuchte noch einmal auf die Beine zu kommen.
Er vollendete die Bewegung nie. Ein grüner Krakenarm senkte sich auf ihn herab, umschlang seine Brust und riß ihn in die Höhe. Yog-Sothoth brüllte triumphierend. Seine Arme hämmerten auf das Schiff ein, zerbrachen Holz und Metall, zerrten mit Urgewalt an den Masten und rissen die gewaltigen Segel in Fetzen. Die LADY OF THE MIST bewegte sich noch immer, aber jetzt war es die Wut des Dämons, die sie auf die Riffe zujagen ließ. Ihr Rumpf zersplitterte. Ein gewaltiger Riß durchzog mit einemmal das Deck. Die Masten brachen wie Zündhölzer. Meerwasser spülte über die geborstene Reling und riß Männer und Trümmerstücke ins Meer.
Ich wußte nicht, wie lange es dauerte. Sekunden, Minuten, Stunden - mein Zeitgefühl erlosch, und alles, was ich noch spürte, war Furcht. Die LADY OF THE MIST sank in einem Strudel aus Chaos und gestaltgewordener, schuppiger Furcht. Yog-Sothoths Tentakel zermalmten das Schiff wie eine Nußschale, zerbrachen Masten, rissen gewaltige Stücke aus dem Rumpf und vernichteten das, was dem Meer und den Riffen entkommen war.
Schließlich ergriff mich eine Welle, riß mich von den Füßen und spülte mich von Bord des sinkenden Schiffes. Ich wurde unter Wasser gedrückt, prallte mit dem Hinterkopf gegen einen Fels und verlor das Bewußtsein.
Kälte. Das war das erste, was ich fühlte, als ich das Bewußtsein wiedererlangte und mich durch einen Sumpf aus Schwäche und Visionen wieder ins Wachsein zurückkämpfte. Ich lag auf einer weichen, nassen Unterlage. Sonnenlicht fiel wärmend auf mein Gesicht, aber die Strahlen vermochten die Kälte, die sich tief in meinen Körper gekrallt hatte, nicht zu verjagen. Ich zitterte. Meine Beine lagen bis über die Knie im Wasser, und mein ganzer Körper fühlte sich zerschunden und zerschlagen an. Ich öffnete die Augen.
Über mir spannte sich ein wolkenloser, blauer Himmel. Der Sturm hatte sich gelegt, und selbst das Wispern des Windes war verklungen. Alles, was ich hörte, war das leise Geräusch der Brandung.
Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch, sah mich um und schüttelte verwirrt den Kopf. Im ersten Moment hatte ich Mühe, mich darauf zu besinnen, wo ich war und wie ich hierhergekommen war. Das Meer hatte mich auf einen flachen, mit weißem Muschelkalk übersäten Sandstrand gespült, eine winzige, kaum zwanzig Schritt messende Einbuchtung in der lotrecht aus dem Wasser steigenden Steilküste, vor der die LADY zerschellt war. Trümmerstücke und Fetzen von Segeltuch bedeckten den Strand, aber von dem stolzen Viermastsegler war keine Spur mehr zu sehen.
Der Gedanke an die LADY OF THE MIST ließ meine Erinnerungen mit beinahe schmerzhafter Wucht erwachen. Plötzlich erinnerte ich mich an alles - an den Sturm, Yog-Sothoth, sterbende Männer, und an Leichen, die wieder von ihrem Totenbett auferstanden waren ...
Das Knirschen von Sand und Kies unter harten Stiefelsohlen drang in meine Gedanken. Ich sah hoch, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht und erkannte Bannermann. Er trug noch immer die schwarze Öljacke, aber sein linker Arm hing jetzt in einer selbstgebastelten Schlinge, und sein Gesicht war gerötet und angeschwollen.
»Craven!« entfuhr es ihm. »Sie leben!« Er eilte auf mich zu, streckte mir den gesunden Arm entgegen und half mir, auf die Füße zu kommen.
»So ganz sicher bin ich mir da gar nicht«, erwiderte ich verwirrt. Die rasche Bewegung ließ erneut ein starkes Schwindelgefühl in mir aufsteigen. »Wo sind wir?«
Bannermann deutete mit einer Kopfbewegung auf das Meer hinaus. »Eine Meile von der Stelle entfernt, an der die LADY gesunken ist«, sagte er. »Mein Gott, ich dachte, wir wären die einzigen Überlebenden.«
»Wir?« Ein schwacher Schimmer von Hoffnung glomm in meinen Gedanken auf. »Es gibt noch mehr Überlebende?«
Bannermann nickte. »Vier«, sagte er. »Fünf, mit Ihnen. Das ist alles, was von meiner Besatzung übriggeblieben ist. Die Strömung hat uns hierher getrieben. Es ist ein reiner Zufall, daß wir noch am Leben sind.«
»Zufall?« Ich schüttelte den Kopf. »Ein Zufall war es bestimmt nicht, Bannermann«, murmelte ich. »Ich ...« Ich stockte, schwieg einen Moment und machte eine wegwerfende Geste. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, fuhr ich mit veränderter Stimme fort. »Kommen wir von hier fort, ohne noch einmal schwimmen zu müssen?«