»Müde?« fragte O'Banyon leise. »Wenn ich dich ablösen soll...«
Giranten schüttelte den Kopf und griff wieder nach den Rudern, ließ die Hände jedoch reglos auf den Riemen liegen, ohne sie zu bewegen. Das Boot schaukelte sanft auf dem Wasser, und wie zur Antwort auf O'Banyons Frage peitschte der Wind einen neuen Regenschwall heran. Cranton schauderte, als das Wasser unter seinen Regenmantel lief und eisig an seinem Nacken herabrann.
»Nein«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Ich komme mir nur ganz langsam dumm vor, hier im Kreis zu rudern und mich durchnässen zu lassen. Wir sollten aufhören.«
O'Banyon lachte leise. »Du hast Angst«, behauptete er.
Cranton starrte sein Gegenüber wütend an. Obwohl sie sich kaum drei Meter entfernt gegenübersaßen, war O'Banyons Gesicht nicht mehr als eine dunkle, konturlose Fläche vor dem noch dunkleren Hintergrund des Sees. Die Wolkendecke war massiv wie eine Mauer und ließ nicht den geringsten Lichtschimmer hindurch.
»Nein«, schnappte Cranton verärgert. »Ich blamiere mich nur nicht gerne, das ist alles. Wahrscheinlich sitzen sie in Goldspie jetzt alle beisammen in einem Pub und lachen sich einen Ast über uns.«
»Du hast Angst«, behauptete O'Banyon noch einmal, als hätte er die letzten Worte gar nicht gehört. »Aber jetzt ist es zu spät, mein Lieber.« Er seufzte, kramte einen Moment unter seinem Regenmantel herum und förderte Tabaksbeutel und Pfeife zutage. Cranton sah stirnrunzelnd zu, wie er sich trotz des strömenden Regens bedächtig eine Pfeife stopfte, mit den Händen einen Schutz gegen den Wind bildete und ein Streichholz anriß. Der Tabak fing Feuer, aber er war naß und schmorte nur vor sich hin, statt richtig zu glühen. O'Banyon knurrte etwas, klopfte die Pfeife auf dem Bootsrand aus und steckte sie wieder ein. Dann zog er seine Uhr aus der Tasche, riß ein zweites Streichholz an und versuchte, im flackernden Licht der winzigen Flamme die Stellung der Zeiger abzulesen.
»Es ist gleich soweit«, sagte er. »Mitternacht. In wenigen Augenblicken.«
»Und dann kommt es, wie?« Cranton bemühte sich, möglichst viel Spott in seine Stimme zu legen, aber der Unterton von Furcht, der seine Worte begleitete, verdarb ihm den beabsichtigten Effekt. »Das Ungeheuer von Loch Shin - daß ich nicht lache! Mit solchen Geschichten verschrecken sie ihre Kinder, wenn sie nicht schlafen wollen. Oder halten ahnungslose Trottel aus der Stadt zum Narren.«
»Damit meinst du mich«, sagte O'Banyon kopfschüttelnd. Cranton wollte widersprechen, aber O'Banyon brachte ihn mit einer raschen Bewegung zum Schweigen und schüttelte den Kopf. »Ich nehme es dir gar nicht übel, mein Lieber. Vielleicht würde ich ähnlich denken, wenn ich an deiner Stelle wäre. Aber du hast nicht gehört, was ich gehört habe.«
»Das Gerede eines Wahnsinnigen«, knurrte Cranton. »Was bedeutet das schon?«
»Aber er hat ihn beschrieben!« antwortete O'Banyon eindringlich. »So genau beschrieben, wie nicht einmal ich es gekonnt hätte. Das kann der Mensch sich gar nicht ausgedacht haben, Steve. Ich -«
Irgendwo, nicht sehr weit entfernt von dem Boot mit den beiden Männern, klatschte etwas auf die Wasseroberfläche. O'Banyon brach mitten im Wort ab, setzte sich pfeilgerade auf und starrte aus zusammengekniffenen Augen in die samtene Schwärze hinaus, die wie eine erstickende Decke über dem See lag. »Was war das?«
»Dein Ungeheuer«, murrte Cranton. Aber seine Stimme zitterte noch stärker als vorher.
O'Banyon ignorierte ihn. »Da ist etwas«, murmelte er. »Ich, spüre es ganz deutlich ...« Er starrte eine weitere Sekunde auf die schwarze Wasseroberfläche hinab, fuhr mit einem Ruck herum und begann mit den Händen zu fuchteln. »Die Lampe!« rief er, »Schnell, Steve, Und die Kamera!«
Ein sanfter Stoß traf den Boden des Bootes. Cranton verlor für einen Moment das Gleichgewicht, rutschte auf der schmalen Sitzbank nach vorne und klammerte sich erschrocken am Bootsrand fest. Das kleine Schiffchen bebte. Es war ein Gefühl, als wäre es von etwas Weichem, Nachgiebigem - aber trotzdem ungeheuer Starkem - getroffen worden. Wieder war das Geräusch von Wasser zu hören, das mit einem harten Schlag geteilt wurde. Eine Welle traf das Boot, zersprühte an seinem Rumpf und überschüttete seine Insassen mit einem Schwall eisigen Wassers.
Cranton fluchte, beugte sich vor und versuchte mit klammen Fingern, ihre Ausrüstung aus dem wasserdichten Ölsack zu nehmen.
»Beeil dich, Steve«, sagte O'Banyon ungeduldig. »Da ist etwas - ich spüre es ganz deutlich.«
Der See war plötzlich von Geräuschen erfüllt. Wellen trafen in immer kürzeren Abständen das Boot, und irgendwo, links und nicht sehr weit von ihnen entfernt, bewegte sich etwas Dunkles, Massiges über den See.
»Die Karbidlampe!« verlangte O'Banyon ungeduldig. »Wie lange dauert denn das?!«
Cranton richtete sich mit einem ärgerlichen Knurren auf, reichte O'Banyon die kleine, sonderbar geformte Lampe und starrte mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit hinaus. Auch er glaubte jetzt etwas zu erkennen - aber eben nur irgend etwas, ohne daß er hätte sagen können, was.
Aber was immer es war, es war groß.
»Verdammt, Jeff, laß uns hier verschwinden«, murmelte er. »Die Sache gefällt mir nicht.«
O'Banyon hatte den Glaskolben der Lampe ein Stück angehoben und versuchte mit bebenden Fingern, ein Streichholz anzureißen, aber der Wind blies ihm die Flamme schneller wieder aus, als er sie in die Lampe bekommen konnte. Sein Blick wanderte immer wieder über den See und saugte sich an dem schwarzen Ding fest, das inmitten der Dunkelheit erschienen war. Das Boot schaukelte mittlerweile wild auf den Wellen und begann sich langsam zu drehen. Ein neuer, unheimlicher Ton begann sich in das Heulen des Windes zu mischen. Ein Laut, wie ihn keiner der beiden jemals zuvor in seinem Leben gehört hatte: etwas wie ein dunkles, unendlich mühsames Atmen und Schnauben, aber so mächtig, daß die beiden Männer in dem winzigen Boot schauderten.
»Laß uns hier verschwinden«, sagte Cranton noch einmal. »Jeff - bitte!«
Statt einer Antwort riß O'Banyon ein weiteres Streichholz an, schirmte die Flamme mit der Hand ab und entzündete endlich die Lampe.
Cranton schloß geblendet die Augen, als die Dunkelheit über dem Boot schlagartig der weißen, unangenehm grellen Helligkeit der Karbidlampe wich. O'Banyon blinzelte, hob die Lampe mit der linken Hand in Kopfhöhe und fummelte mit der anderen an der komplizierten Anordnung von Spiegeln, die ihr Licht bündeln und weit hinaus auf den See werfen sollten. Ein flackernder, dreieckiger Kegel weißer Helligkeit huschte über die Wasseroberfläche. O'Banyon fluchte, hielt die Lampe etwas höher und verstellte den Spiegel. Aus dem dreieckigen Lichtteppich wurde ein dünner, gebündelter Strahl, der fünfzig und mehr Meter weit auf den See hinausreichte. Irgendwo an seinem Ende bewegte sich etwas; etwas Formloses und Schwarzes und Titanisches. Ein unwilliges, unglaublich tiefes Grollen ertönte, als der Lichtfinger für einen Moment einen bizarren Umriß aus der Dunkelheit hervorzauberte und dann weiterwanderte.
»Hör auf, Jeff, ich bitte dich!« keuchte Cranton.
»Da ist es!« murmelte O'Banyon. »Ich habe recht gehabt, Steve - Truman hat nicht gelogen.« Er fuhr herum, packte Cranton mit der freien Hand beim Kragen und deutete mit der Lampe auf den See hinaus. »Sieh es dir an, Steve! Truman war kein Verrückter! Er hat recht! Dieses Wesen existiert wirklich! Es ist real, und -«
Cranton schlug seine Hand beiseite. »Ich will es gar nicht wissen!« brüllte er. »Ich will hier weg, sonst nichts! Verdammt, Jeff - begreifst du denn nicht? Dieses Monster wird uns umbringen!«
O'Banyon blinzelte verwirrt. Er schien noch gar nicht auf den Gedanken gekommen zu sein, daß sie sich in Gefahr befanden.