»Roderick!« Quenton gab ein unartikuliertes Geräusch von sich und ballte die Faust. »Du bist besessen von deinem Haß gegen Roderick. Er ist fort, und was jetzt geschieht, hat nichts mit ihm zu tun.«
»Narr«, sagte die Alte. »Es hat alles mit ihm zu tun. Warum, glaubst du, sind diese Männer und Frauen auf dem Weg hierher?« Sie deutete mit einer zornigen Kopfbewegung auf die Tür. »Sie kommen, weil er es will, Quenton. Er ist es, der sie schickt - und sie merken es nicht einmal.«
In Quentons Gesicht arbeitete es. Seine Knöchel knackten hörbar, als er in hilflosem Zorn die Fäuste ballte. »Selbst wenn es so wäre«, sagte er schließlich, »ist das kein Grund für uns, hierzubleiben.« Er starrte die Alte an und schob kampflustig das Kinn vor. »Ihr könnt ja warten, bis sie kommen«, sagte er. »Ich gehe jetzt jedenfalls und hole mein Gewehr. Und ich werde jeden erschießen, der es wagt, auch nur einen Fuß in die Stadt zu setzen.«
Die jüngere Frau wollte etwas sagen, aber die Alte legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und drückte zu. Die Frau schwieg.
Quenton blickte noch einmal kampflustig in die Runde, fuhr auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Haus. Die Tür fiel mit lautem Krachen hinter ihm ins Schloß.
»Dieser Narr«, sagte die Alte leise. »Er hat nichts begriffen. Sie werden ihn töten.«
»Sie werden auch uns töten, wenn wir hierbleiben, Andara«, wandte der andere Mann ein. Er war jünger als Quenton, und in seinem Gesicht fehlte die Härte, die das Quentons von denen der anderen unterschied.
Die grauhäutige Alte nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und ließ ihre Kleider rascheln. Eine Strähne ihres farblosen, brüchigen Haares glitt unter ihrer Kapuze hervor und fiel ihr ins Gesicht. Sie wischte sie mit einer unwilligen Bewegung beiseite. »Das mag sein«, sagte sie. »Aber vielleicht ist unser Tod nicht so sinnlos wie es scheint, wenn wir zuvor beenden, was wir angefangen haben.« Sie hob den Kopf und blickte die jüngere Frau aus ihren brennenden dunklen Augen an. »Fahre fort, Lyssa«, sagte sie.
Lyssa zögerte. »Wir sind nur noch drei«, sagte sie. »Ohne Quenton -«
»Drei sind genug«, unterbrach sie Andara ungeduldig. »Quenton hat niemals wirklich zu uns gehört.«
»Aber er besitzt die Macht.«
»Macht?« Andara lachte meckernd. »Was weißt du von der Macht, du dummes Kind? Viele von uns besitzen sie, nicht nur du und ich und« - sie wies auf den jungen Mann an Lyssas Seite - »Lennard. Auch Roderick besitzt sie, vielleicht mehr als alle zusammen. Aber was nutzt die Macht, wenn man sie nicht einzusetzen vermag?« Sie kicherte. »Was hilft einem Grizzly seine Kraft gegen die Verschlagenheit der Jäger, in deren Falle er tappt?« Sie schüttelte abermals den Kopf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Drei sind genug«, wiederholte sie, und diesmal klangen die Worte wie ein Befehl. »Fahre fort.«
Lyssa nickte. Der Blick ihrer großen, wasserklaren Augen heftete sich auf das geschlossene Fenster, und Andara erkannte deutlich die Furcht darin.
»Verzweifle nicht, Kind«, sagte sie mit einer Sanftheit, die keiner der anderen ihr zugetraut hätte. »Vielleicht werden wir sterben, aber der Tod ist nicht das, wofür ihn die meisten halten.« Sie lächelte geheimnisvoll und sagte noch einmaclass="underline" »Fahre fort.«
Das Mädchen gehorchte. Ihre Augen blieben weiter geöffnet, aber ihr Blick wurde wieder leer, und ihre Hände, die bisher nervös an einem Zipfel ihres einfachen braunen Kattunkleides gespielt hatten, waren mit einemmal ganz ruhig.
Von draußen drangen gedämpfte Stimmen in den Raum, dann das Trappeln von Schritten, Türenschlagen und Hundegebell. Ein Pferd wieherte schrill, dann knallte eine Peitsche, und eine zornige Stimme begann zu fluchen.
Aber Lyssa schien von alledem nichts zu merken. Starr und wie gelähmt hockte sie auf ihrem Schemel, ohne die geringste Bewegung, ohne mit den Lidern zu zucken, ja, selbst ohne zu atmen.
»Spürst du ihn?« fragte Andara nach einer Weile. »Spürst du seine Nähe? Hört er unseren Ruf?«
Lyssa nickte. Ihr Blick flackerte, wurde für eine halbe Sekunde klar und verschleierte sich sofort wieder. Auf ihrer Stirn lag kalter, klebriger Schweiß.
»Ich fühle ihn«, flüsterte sie. »Er ... hat deinen Ruf gehört, Andara. Und er wird ... ihm folgen.« Sie schluckte. Ihre Stimme wurde brüchig und klang plötzlich wie die einer alten Frau. »Yog -«
»Sprich diesen Namen nicht aus!« Andara hob erschrocken die Hand und berührte die des Mädchens. Die Stimmen, die durch die geschlossenen Läden in den Raum drangen, wurden lauter, und plötzlich zerriß der peitschende Knall eines Schusses die Stille. Ein gellender Schrei antwortete wie ein bizarres Echo darauf.
»Sprich ihn nicht aus«, murmelte Andara noch einmal. »Es ist den Sterblichen verboten, seinen Namen zu benutzen. Es reicht, wenn er weiß, daß wir ihn rufen.«
»Er weiß es«, antwortete Lyssa mühsam. »Und er ... wird tun, was ... du verlangst.«
Andara antwortete nicht mehr. Ihr Gesicht war wieder zu einer Maske der Unberührbarkeit und des Alters erstarrt, und ihre Hände, die nebeneinander auf der Tischplatte lagen, als warteten sie nur darauf, zum Gebet gefaltet zu werden, sahen mehr denn je wie die einer Toten aus.
Nur in ihren Augen glomm ein böses, böses Lächeln auf ...
Die Kabine war dunkel und eng, und die Luft roch schlecht; wie es eben in einem fensterlosen Raum riecht, der viel zu klein für zwei Menschen ist und in dem zudem noch seit annähernd fünf Wochen ein Kranker liegt. Eine winzige, rußende Petroleumlampe schaukelte an einem Draht unter der Decke, und Bannermann hatte - fürsorglich, wie er nun einmal war - einen kleinen Tonkrug mit wohlriechenden Kräutern, den er weiß Gott wo aufgetrieben haben mochte, auf das schmale Wandregal neben der Tür stellen lassen. Aber auch er vermochte den muffigen Geruch, der sich in den Wänden eingenistet hatte, nicht vollends zu vertreiben. Wie fast immer, wenn ich hier herunter kam, hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
Und wie immer, wenn ich diesen Gedanken dachte, überfiel mich fast sofort ein schlechtes Gewissen. Montague konnte nichts dafür, daß er krank war. Und er war sehr gut zu mir gewesen, obwohl ich es nun wirklich nicht verdient hatte.
Leise trat ich an das schmale, an der Wand verschraubte Bett, beugte mich über den Schlafenden und betrachtete sein Gesicht. Es hatte sich nicht verändert, weder zum Guten noch zum Schlechten. Seine Wangen waren noch immer grau und eingefallen, und unter den großen, in den letzten Tagen vom Fieber trübe gewordenen Augen lagen tiefe schwarze Ringe. Und es faszinierte mich noch immer so wie beim ersten Mal, als ich es gesehen hatte.
Ich erinnerte mich gut an jenen Tag, an jede Minute und jedes Wort, ja, jeden Blick, den er mir bei unserem ersten Zusammentreffen zugeworfen hatte, obwohl seither mehr als sechs Monate vergangen und so viel geschehen war. Ich war damals ein anderer, und das meine ich ganz genau so, wie ich es sage. Bannermann und seine Matrosen hätten den Mann, der ich damals gewesen war, nicht einmal erkannt, wenn er plötzlich neben mir gestanden hätte. Ich war vierundzwanzig, arm und abenteuerlustig (was nichts anderes bedeutete, als daß ich die Hälfte der acht Jahre, die ich in New York gelebt habe, in den dortigen Gefängnissen verbrachte), und lebte von Gelegenheitsarbeiten. Jedermann, der das New Yorker Hafenviertel kennt, weiß, was das bedeutet - nämlich, daß ich auch ab und zu einen ahnungslosen Fremden, der sich nach Dunkelwerden in diese Gegend verirrte, um Geldbörse und Schmuck erleichterte. Nicht, daß es mir Spaß gemacht hätte: ich bin nicht kriminell, und Gewalt ist mir zuwider. Aber es gibt einen Teufelskreis in den großen Städten an der Ostküste, aus dem man nicht mehr herausfindet. Als ich nach New York kam, war ich sechzehn und hatte außer den sechsundneunzig Einwohnern von Walnut Falls, dem Kaff, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, noch keine Menschenseele gesehen. Die Tante, bei der ich groß geworden bin (es war nicht wirklich meine Tante, sondern einfach eine grundgütige Frau mit einem großen Herzen, die sich meiner annahm, nachdem meine Eltern mich bereits als Säugling ausgesetzt hatten), war gestorben, und ihre gesamte Hinterlassenschaft bestand aus sieben Dollar, einem winzigen silbernen Kreuz an einer Kette - und einer Fahrkarte nach New York. In dem Brief, den sie ihrem Testament beifügte, erklärte sie mir, daß sie hoffte, ich würde in der großen Stadt mein Glück machen und ein anständiger Bursche werden.