Выбрать главу

Er kam auf mich zu, blieb in zwei Schritten Entfernung stehen und musterte mich einen Augenblick lang mit schon fast unverschämter Offenheit. Dann zauberte er ein berufsmäßiges Lächeln auf seine feisten Züge. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte er.

»Ich ... brauche einen neuen Anzug«, antwortete ich. »Und eigentlich auch ein neues Cape.«

Leyman maß mich mit einem weiteren Blick, mit dem er gleichzeitig meine Konfektionsgröße wie meine finanziellen Verhältnisse einzuschätzen schien. Eines von beidem schien ihm nicht zu gefallen.

»Auch auf die Gefahr, daß Sie es mir übelnehmen, Sir«, begann er vorsichtig, »aber ich würde beinahe sagen, Sie brauchen eine komplett neue Ausstattung. Ganz billig wird das allerdings nicht.«

Ich nickte, griff mit einer übertrieben lässigen Geste in die Westentasche und streute eine Handvoll zerknautschter Fünf-Pfund-Noten vor ihm auf die Theke. »Reicht das?«

Der Ausdruck auf Leymans Zügen änderte sich schlagartig. »Aber selbstverständlich, Sir«, sagte er hastig. »Welche Art von Kleidern -«

»Etwas Robustes«, unterbrach ich ihn. »Ich reise morgen bereits weiter, und ich gedenke, mich in London standesgemäß einzukleiden.«

»Also etwas Praktisches, für die Reise«, nickte Leyman schon merklich kühler. Er hatte die Spitze registriert. »Ich glaube, da habe ich etwas für Sie.« Er zögerte, biß sich auf die Unterlippe und sah sich suchend um. Dann trat er an eines seiner Regale, suchte einen Moment herum, wobei er beständig vor sich hin grummelte, und kam schließlich mit einem ganzen Armvoll Hemden, Hosen und Unterkleidern zurück. »Jacken und Mäntel habe ich oben, Sir«, erklärte er, während er mir den Kleiderstapel ohne viel Federlesens in die Arme drückte. »Sie werden nicht so oft verlangt, wissen Sie? Aber Sie können diese Sachen schon einmal in aller Ruhe anprobieren, während ich ins Lager gehe. Die Umkleidekabine ist da hinten.« Er wollte sich herumdrehen, zögerte aber noch einmal und deutete mit einer Kopfbewegung auf meine Hand. »Verzeihung, Sir ... Sie haben sich am Daumen verletzt.«

Ich folgte seinem Blick, nickte und zog die Hand hastig zurück, um die sauberen Kleider nicht mit Blut zu beschmieren. Der Schnitt, den ich mir drüben in der Bank selbst zugefügt hatte, blutete noch immer; nicht sehr stark, aber beständig.

»Es ist nur, damit die Sachen ...« Leyman brach ab und lächelte verlegen. »Sie verstehen.«

»Aber sicher«, antwortete ich und steckte den Daumen in den Mund. Jetzt, als ich auf die Wunde aufmerksam geworden war, spürte ich auch Schmerz. Einen ziemlich ekelhaften Schmerz sogar. Der Schnitt mußte tief sein.

»Nichts für ungut, Sir«, sagte Leyman nervös. »Aber Blutflecken gehen sehr schwer wieder heraus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich herum und ging.

Im gleichen Moment, in dem er die Tür hinter sich zuzog, registrierte ich den Fäulnisgeruch.

Es war nur ein Hauch, gerade an der Grenze des Spürbaren, aber meine überreizten Nerven reagierten darauf wie auf eine Wolke von Pestgestank.

Ich fuhr herum, ließ einen Teil der Kleider fallen und langte automatisch nach meiner Waffe.

Aber ich führte die Bewegung nicht zu Ende.

Der Laden war leer. Obwohl er bis zum Bersten mit Regalen und Verkaufsständern vollgestopft war, bot sich doch nirgendwo ein Versteck, das groß genug war, einen Menschen aufzunehmen. Ich war allein.

Und trotzdem spürte ich, daß ich beobachtet wurde. Es war nicht dieses flüchtige Gefühl des Nicht-allein-Seins, das man manchmal hat, wenn jemand mit einem im Raum ist, ohne daß man es weiß, sondern ein absolut sicheres Wissen. Außer mir war noch jemand im Raum - jemand oder etwas - und dieses Etwas kam näher.

Ich lauschte, aber das einzige, was ich hörte, waren das Hämmern meines eigenen Herzens und Leymans Schritte, die irgendwo über meinem Kopf herumpolterten. Nur der Geruch wurde stärker.

Fischgeruch. Ich konnte ihn jetzt identifizieren. Es war der Gestank von faulendem Fisch, der mir entgegenschlug und mir schier den Atem nahm.

Ich schluckte ein paarmal, versuchte, den üblen Geschmack, der sich plötzlich auf meiner Zunge ausbreitete, zu ignorieren und sah mich mit erzwungener Ruhe um. Ich hatte mich einmal zum Narren gemacht, weil ich dachte, etwas zu hören, und das reichte. Vielleicht war ich einfach nur übermüdet. Und schließlich war Goldspie ein Fischerdorf - warum sollte es in einem Fischerdorf nicht nach Fisch riechen?

Ich zwang mich zur Ruhe, las die Kleider, die ich fallengelassen hatte, wieder auf, und ging mit erzwungen ruhigen Schritten zur Umkleidekabine.

Die Kammer war winzig und bot nicht einmal ausreichend Platz, sich auszukleiden, ohne dabei ständig irgendwo anzustoßen. Verschlossen wurde sie nur von einem dünnen, schon halb zerschlissenen Vorhang, und die ganze Rückwand wurde von einem deckenhohen, im Laufe zahlloser Jahre blind und fleckig gewordenen Spiegel eingenommen. Behutsam legte ich die Kleider, die mir Leyman gegeben hatte, zu Boden, und lehnte Aktenmappe und Stockdegen griffbereit neben mir an die Wand.

Ich konnte Leyman und den Bankkassierer verstehen, als ich in den Spiegel sah. Es war nicht allein so, daß meine Kleider vor Schmutz starrten und zerrissen waren - das Schlimmste war mein Gesicht. Meine Wangen, ohnehin nicht gerade üppig, waren eingefallen und von grauen Schatten gezeichnet, und unter meinen Augen, die rot und entzündet ihr eigenes Spiegelbild anglotzten, lagen dunkle, wie mit einem Pinsel gemalte Ringe.

Und über meinem rechten Auge war ein breiter, wie ein Blitz gezackter Streifen Haar heller geworden.

Und die Veränderung ging weiter. Das Gesicht im Spiegel alterte zusehends, verfiel in Minuten um Jahre und bekam einen dunklen, asketischen Zug. Der Streifen weißen Haares über der rechten Augenbraue wurde breiter und gleichzeitig kräftiger.

Es war nicht mehr mein Gesicht, das mich aus dem Spiegel ansah - sondern das Gesicht meines Vaters!

Der Anblick traf mich wie ein Hieb. »Vater!« keuchte ich. »Du -«

Der Mann im Spiegel hob die Hand und brachte mich mit einer hastigen Geste zum Schweigen. »Nicht!« sagte er. Seine Lippen bewegten sich nicht beim Sprechen, und so, wie ich es schon ein paarmal erlebt hatte, schien seine Stimme direkt in meinem Kopf zu ertönen. »Hör mir genau zu, Robert - mir bleibt nicht viel Zeit. Du bist in Gefahr! Verlasse diesen Ort, so schnell du kannst! Man trachtet dir nach dem Leben!«

»Vater!« keuchte ich fassungslos. Ich hörte seine Worte kaum. Mein Blick saugte sich an seinem Gesicht fest, und für einen Moment vergaß ich sogar zu atmen. »Aber du ... ich dachte, du wärest tot!« stammelte ich. »Wo bist du?«

»Der Tod ist nicht das, wofür ihn die Menschen halten«, antwortete mein Vater geheimnisvoll. »Vielleicht finde ich später einmal Gelegenheit, dir alles zu erklären, aber jetzt mußt du gehen. Du bist in Gefahr, und ich kann dir nicht helfen. Meine Kräfte schwinden bereits.«

Tatsächlich wurde seine Stimme zunehmend leiser, und durch die schmalen Züge seines Gesichtes im Spiegel schimmerten bereits wieder meine eigenen hindurch.

Mit einem Schrei warf ich mich gegen den Spiegel, preßte die Handflächen gegen das kalte Glas und rief immer wieder seinen Namen.

Es war zwecklos. Sein Bild verblaßte, und seine Stimme wurde leiser und leiser. »Flieh, Robert!« rief er mit schwindender Kraft. »Verlasse diesen Ort ehe die Sonne untergeht, oder du wirst sterben!«

Damit verschwand er, und ich sah wieder meinem eigenen Spiegelbild ins Gesicht.

Aber der Spiegel blieb nur eine Sekunde leer. Der Vorhang hinter meinem Rücken bewegte sich, und für einen Moment bauschte sich der dünne Stoff und zeichnete die Umrisse eines gewaltigen, monströsen Körpers nach. Ein Körper, der viel größer als der eines Menschen war. Massiger. Und mit zu vielen Armen.