Es ging zu schnell, als daß irgendeiner von uns noch Gelegenheit gefunden hätte, auch nur einen Finger zu rühren. Billings stieß sich mit einer blitzartigen Bewegung von der Wand ab, rannte Bannermann schlichtweg über den Haufen und lief, aus Leibeskräften schreiend und wie ein Wahnsinniger um sich schlagend, auf die Treppe zu.
Er kam nicht einmal fünf Schritte weit. Irgend etwas Unsichtbares, ungeheuer Starkes schien ihn mitten im Schritt zu ergreifen und mit Urgewalt herumzuwirbeln. Er schrie auf, riß verzweifelt die Arme hoch und brüllte erneut, als ihn ein zweiter, noch härterer Schlag traf. Der Matrose taumelte, prallte gegen die Wand und sank mit einem Schmerzensschrei auf die Knie. Über seiner linken Augenbraue war ein fingerlanger, blutiger Riß entstanden.
Es ging unglaublich schnell. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein Schatten auf dem Flur; ein verzerrtes, gewaltiges Etwas, grob menschenähnlich geformt, aber weit über zwei Meter groß und mit fast einem Dutzend muskulöser, peitschender Schlangenarme, kopflos und mit grünschuppiger, glitzernder Haut, ein abscheuliches Monstrum, dessen bloßer Anblick allein genügt hätte, einem Mann das Blut in den Adern gerinnen zu lassen. Aber es verschwand so schnell wieder, wie es aufgetaucht war.
Dafür begann Billings zu schreien. Sein Körper wand sich, bog sich wie unter einem tödlichen Krampf und erschlaffte mit erschreckender Plötzlichkeit.
Und das Blut auf seiner Stirn begann zu kochen ...
Ich wartete nicht, was weiter geschah. Billings war rettungslos verloren, aber vielleicht rettete uns sein Opfer das Leben. Mit einem krächzenden Schrei stürmte ich los, rannte, Bannermanns entsetzte Rufe mißachtend, los, und stürmte mit gesenktem Kopf an Billings und dem Unsichtbaren vorüber. Eine Wolke erstickenden Gestankes hüllte mich ein, als ich an dem unglücklichen Matrosen vorüberhastete, und für einen winzigen, schrecklichen Augenblick glaubte ich, noch einmal den Schatten des Blutdämons zu sehen, ein verzerrter, grauer Moloch, der sich gierig über den Sterbenden beugte, seine schrecklichen Tentakelarme tief in seinen Körper versenkt.
Dann war ich vorbei und hatte die Treppe erreicht.
Die Anstrengung ließ mich taumeln. Blindlings griff ich nach dem Geländer, klammerte mich mit der Linken fest und begann, die ausgetretenen Stufen hinunterzustolpern. Ein hastiger Blick über die Schulter zurück zeigte mir, daß auch Bannermann und die vier überlebenden Matrosen endlich aus ihrer Erstarrung erwacht und losgerannt waren.
Bannermann holte mich ein, als ich den Fuß der Treppe erreichte. Sein Atem ging schnell und ungleichmäßig, und auf seinem Gesicht hatte sich ein Ausdruck tiefen, unüberwindlichen Grauens festgesetzt. »Craven!« stammelte er. »Was ... was ist das? Was ...« Er brach ab, als die Eingangstür des Hotels mit einem so harten Ruck aufgestoßen wurde, daß sie rücklings gegen die Wand prallte und die Scheibe klirrend zerbrach.
Unter der Öffnung erschien eine schwarzuniformierte Gestalt.
Es war nicht einmal eine Stunde her, daß ich Constabler Donhill gegenübergesessen hatte. Trotzdem erkannte ich ihn kaum wieder. Sein Gesicht war zu einer Grimasse des Hasses geworden, und seine Hände krampften sich um Schaft und Lauf einer schweren Schrotbüchse.
Einen Herzschlag lang blieb er reglos unter der Tür stehen, dann kam er näher - langsam, und das Gewehr so haltend, daß er sowohl mich als auch Bannermann und seine Männer jederzeit im Schußfeld hatte. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle, Craven«, flüsterte er. Seine Stimme bebte. »Ich ... ich warne Sie. Nehmen Sie die ... die Hände hoch.«
Ich gehorchte. Rechts und links von mir nahmen auch Bannermann und die vier überlebenden Matrosen langsam die Hände in die Höhe. Von dem Portier hinter dem Empfang war keine Spur mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte er die Gefahr mit dem Instinkt, den solche Leute manchmal haben, gespürt und sich frühzeitig in Sicherheit gebracht.
»Sie machen einen Fehler, Donhill«, sagte ich. »Wir ...«
»Schweigen Sie!« Donhill unterstrich seinen Befehl mit einer wütenden Geste dem Gewehr, trat einen Schritt zur Seite und winkte mit der linken Hand. Ich bemerkte erst jetzt, daß er nicht allein gekommen war. Vor der offenstehenden Tür des Hotels drängten sich mindestens ein Dutzend Männer und Frauen. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Das Ganze erinnerte mich recht lebhaft an eine Lynchparty ...
»Donhill«, sagte ich verzweifelt. »Sie täuschen sich. Wir sind in Gefahr. Dort oben liegt ein -«
»Sie sollen den Mund halten, Craven!« zischte Donhill. Wütend trat er auf mich zu und hob das Gewehr, als wolle er mich schlagen. Ich duckte mich, wich einen halben Schritt zurück und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich Bannermann neben mir spannte.
»Kommen Sie rein, Gellic«, sagte Donhill laut. »Keine Angst - er kann Ihnen nichts mehr tun.«
Hinter ihm erschien eine schmalschultrige, grauhaarige Gestalt. Es dauerte einen Moment, bis ich den Mann erkannte - ohne seinen Bankschalter und die ledernen Ärmelschoner sah er verändert aus.
»Ist er das?« fragte Donhill.
Gellic musterte mich von Kopf bis Fuß. Sein Blick flackerte, und er sah ganz aus wie ein Mann, der sich in diesem Moment sehr, sehr weit weg wünschte. Schließlich nickte er.
»Ja, Constabler«, murmelte er. »Das ... das ist der Mann.«
Donhill nickte grimmig, drehte sich wieder vollends zu mir und reckte kampflustig das Kinn vor. »Robert Craven«, sagte er betont. »Ich verhafte Sie hiermit wegen dringenden Mordverdachtes.«
»Mord ...«, keuchte Bannermarm neben mir. »Sagten Sie Mordverdacht, Constabler?«
Donhill warf ihm einen eisigen Blick zu. »Mischen Sie sich nicht ein, Captain. Mit Ihnen beschäftige ich mich später. Und nehmen Sie die Hände hoch!«
Bannermann hatte die Arme halb herabsinken lassen, hob die Hände aber jetzt hastig wieder in Schulterhöhe und schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie müssen übergeschnappt sein, Donhill«, sagte er. »Vor wenigen Augenblicken hat jemand versucht, uns umzubringen. Oben auf dem Flur liegt einer meiner Männer, Constabler. Tot! Warum kümmern Sie sich nicht darum, statt hier wilde Beschuldigungen vorzubringen?«
Donhill runzelte überrascht die Stirn, sah an Bannermann und mir vorbei zur Treppe und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.
Aber er tat nur so, als wäre er überrascht. Ich spürte es.
»Sie waren der letzte, der Leyman lebend gesehen hat, Craven«, sagte er hart. »Und Sie waren kaum fünf Minuten in seinem Geschäft, als das ganze Haus in Flammen aufging. Leyman ist tot, und wir können von Glück sagen, wenn der Brand nicht auf die ganze Stadt übergreift.« Er winkte befehlend mit dem Gewehr. »Also machen Sie keinen Unsinn und kommen Sie mit. Wenn Sie wirklich unschuldig sind, dann bekommen Sie Gelegenheit, Ihre Unschuld zu beweisen, Craven. Und Sie auch, Captain.«
Bannermann sog verblüfft die Luft ein. »Ich? Aber was haben wir ...«
»Nichts«, sagte ich leise. »Wir sind Fremde, Bannermann, das reicht. Nicht wahr, Donhill?«
Ich hatte den Constabler während der ganzen Zeit nicht aus den Augen gelassen, und es hätte nicht einmal meines besonderen Talentes bedurft, um zu erkennen, wie genau ich mit meiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.
»Das reicht«, sagte Donhill wütend. »Wenn Sie noch ein Wort sagen, schlage ich Ihnen die Zähne ein, Craven. Sie werden später Gelegenheit haben, sich zu verteidigen.« Er sprach laut; eine Spur zu laut. Die Worte galten weniger uns als vielmehr den Leuten, die draußen vor dem Hotel standen und Donhill und uns beobachteten. Ich konnte ihre gereizte Stimmung fast riechen. Wenn wir dort hinausgingen, würde keiner von uns lebend das Gefängnis erreichen.
»Sie haben recht«, murmelte ich. »Das reicht.«