Der Mann bewegte sich wieder. Seine Augen öffneten sich einen Spaltbreit; die Lider flackerten, und seine Fingernägel kratzten mit leisem, scharrendem Geräusch über die grobe Decke, unter der er lag. Für einen Moment verschwand der Schleier vor seinen Augen. Sein Blick tastete über die nackte Wand, glitt zum Fenster hinauf und verharrte für einen Moment auf dem sonnenerfüllten Rechteck des Fensters, wanderte weiter, tastete über die geschlossene Tür und saugte sich an dem spiegelnden, schwarzen Metall fest. Seine Augen weiteten sich ungläubig.
Die Tür war nicht mehr so, wie sie noch vor Sekunden gewesen war. Der schwarze Lack auf dem Eisen begann zu glänzen als wäre er poliert, und im Zentrum der mannshohen, rechteckigen Fläche begann sich ein verschwommener Umriß abzuzeichnen.
O'Banyon keuchte ungläubig, fuhr mit einem kurzen Ruck hoch und sank wieder zurück, als die Kette schmerzhaft in sein Handgelenk schnitt. Er spürte es kaum. Sein Blick saugte sich an dem langgestreckten, dunklen Umriß fest, der auf dem spiegelnden Metall der Tür sichtbar geworden war ...
»Mein Gott ...« keuchte er. »Herr im Himmel, was ... was ist das?«
Der Schatten begann sich zu verdichten, dunkler, deutlicher zu werden. Für einen Moment glaubte O'Banyon ein mannsgroßes, flackerndes Oval zu erkennen, dann verdichtete sich der Schatten weiter, bildete Arme, Beine und einen Kopf und wurde zum verzerrten Spiegelbild eines Menschen ... O'Banyon wollte schreien, aber das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Alles, was über seine Lippen kam, war ein unartikuliertes Stöhnen.
Die bizarre Veränderung ging weiter. Aus dem dunklen Fleck auf der Tür wurde der schwarze, tiefenlose Schatten eines Menschen.
»Fürchten Sie sich nicht, O'Banyon«, sagte eine Stimme. »Ich bin nicht hier, um Ihnen zu schaden.«
O'Banyon registrierte die Worte kaum. Sein Mund stand vor Entsetzen offen, und seine Fingernägel gruben sich tief in seine Handballen. Aber nicht einmal das merkte er.
»Satan!« wimmerte O'Banyon. »Du ... du bist gekommen, um mich zu holen!«
Ein, leises, dunkles Lachen antwortete ihm. Aus dem Schatten auf der Tür war mittlerweile das Bild eines Menschen geworden; das gut zwei Meter große, dreidimensionale farbige Bild eines schlanken Mannes in altertümlicher, aber durchaus geschmackvoller Kleidung. Sein Gesicht war schmal und von einem dünnen, sorgsam ausrasierten King-Arthur-Bart eingerahmt. Über seinem rechten Auge zog sich ein drei Finger breiter, wie ein erstarrter Blitz gezackter Streifen schlohweißen Haares bis fast zum Scheitel hinauf.
Und dann machte das Bild einen Schritt und trat aus der Tür heraus in die Zelle hinein ... O'Banyon kreischte, fuhr hoch und presste sich gegen die Wand, so fest er konnte. In seinen Augen flackerte der Wahnsinn. »Nein!« keuchte er. »Geh! Geh weg! Laß mich!« Er krümmte sich, verbarg den Kopf zwischen den Armen und streckte der Erscheinung abwehrend die Hände entgegen. Aus seinem Mund drangen unartikulierte, wimmernde Laute.
Der Fremde blieb einen Herzschlag lang hochaufgerichtet vor O'Banyons Bett stehen, schüttelte dann den Kopf und berührte den Mann flüchtig an der Schulter.
O'Banyon hörte auf zu kreischen. Langsam, noch immer am ganzen Leib wie Espenlaub zitternd, aber schon wieder halbwegs beherrscht richtete sich O'Banyon auf und starrte zu der Erscheinung hoch. Seine Lippen bebten, und seine Augen waren unnatürlich geweitet.
Der Fremde lächelte. »Geht es besser?« fragte er. Seine Stimme klang dunkel und irgendwie seltsam, als käme sie von weit, weit her, aber nicht unbedingt unfreundlich.
»Wer sind Sie?« wisperte O'Banyon. »Und wie ... wie kommen Sie hierher?«
»Mein Name ist Andara«, antwortete der Fremde. Er lächelte erneut, ging mit gemessenen Schritten um die Pritsche herum und ließ sich an ihrem Fußende auf die Bettkante sinken. Als er durch den schmalen Streifen flirrenden Lichtes schritt, der durch das Fenster hereinfiel, sah O'Banyon, daß das Licht durch seinen Körper hindurchschimmerte, als wäre er nichts als ein Trugbild.
»Und was die Frage angeht, wie ich hierherkomme«, fuhr Andara fort, »das ist eine lange Geschichte, und ich fürchte, mir bleibt nicht die Zeit, sie zu beantworten. Aber ich bin nicht Ihr Feind, O'Banyon.«
O'Banyon schluckte krampfhaft. »Sie ... Sie kennen mich?« fragte er.
Andara nickte. »Ja. Sie und Ihren Freund.«
»Steve?« O'Banyon setzte sich kerzengerade auf und sank mit einem neuerlichen Keuchen zurück, als die Kette abermals tief in sein Handgelenk schnitt. Andara beugte sich vor und berührte die Handschelle mit zwei Fingern. Für den Bruchteil einer Sekunde glühte der metallene Ring auf wie unter einem inneren Feuer. Dann verschwand er.
O'Banyon starrte fassungslos auf sein Handgelenk. »Gott!« keuchte er. »Wie ... wie haben Sie das gemacht?«
»Auch für diese Antwort bleibt im Moment keine Zeit, fürchte ich«, sagte Andara. »Glauben Sie mir einfach, daß ich Ihr Freund bin und nur Ihr Bestes will, O'Banyon. Ich werde Sie aus diesem Gefängnis befreien.«
O'Banyon starrte sein Gegenüber an, suchte vergeblich nach Worten und sah sich dann mit einem Blick um, als nehme er seine Umgebung erst jetzt zum ersten Mal wahr. Auf seinem Gesicht begann ein tiefer, mit Grauen gepaarter Schrecken zu erwachen. »Steve«, murmelte er. »Das ... das Ungeheuer, Es ... es hat ihn umgebracht.«
Andara nickte ernst. »Ich fürchte ja.«
O'Banyon schwieg einen Moment. Seine Stimme klang gepreßt, als er weitersprach, aber in seinem Blick flackerte der Wahnsinn. »Dann ... dann habe ich all das wirklich erlebt?« murmelte er. »Ich bin nicht verrückt? Ich ...«
Andara lächelte. »Nein, O'Banyon, das sind Sie gewiß nicht. Donhill und die anderen haben versucht, Ihnen das einzureden, aber es ist alles wahr.«
»Dann ist Steve wirklich, tot«, murmelte O'Banyon.
»Ja. Aber es war nicht Ihre Schuld, daß er gestorben ist, O'Banyon«, antwortete Andara. »Man hat Ihnen übel mitgespielt, Ihnen und Ihrem Freund. Donhill und die anderen wußtet, daß die Bestie dort draußen im See auf Sie lauert. Ihr Freund wurde geopfert. Auch Sie sollten sterben.«
O'Banyon atmete hörbar ein. Seine Hände zuckten. »Warum ... erzählen Sie mir das alles?« fragte er halblaut. »Warum helfen Sie, nur, Andara?«
»Weil ich Ihre Hilfe brauche, O'Banyon«, antwortete Andara ernst. »Donhill und seine Freunde sind Verbrecher, gewissenlose Mörder, denen ein Menschenleben nichts gilt. Auch Sie würden sterben, wenn Sie blieben. Donhill und seine Freunde würden Sie umbringen.«
»Meine Hilfe?«
Andara nickte. »Hören Sie zu, O'Banyon. Ich ... kann aus Gründen, die ich Ihnen jetzt nicht zu erklären vermag, nicht sehr lange bleiben. Mein Hiersein allein verstößt gegen Gesetze, denen selbst ich mich zu beugen habe.«
»Sie sind kein Mensch«, murmelte O'Banyon. In seiner Stimme war ein leichter, hysterischer Unterton.
»Kein lebender Mensch, wenn Sie das meinen«, bestätigte Andara. »Aber hören Sie zu, O'Banyon. Ich bringe Sie hier heraus, aber ich muß Sie um einen Gefallen bitten. Mein Sohn ist in dieser Stadt. Er ist der Mann, der Sie hierher gebracht hat. Sein Name ist Craven, Robert Craven. Können Sie sich das merken?«
O'Banyon nickte. »Robert Craven«, wiederholte er.
»Ja. Gehen Sie zu ihm, O'Banyon. Gehen Sie zu ihm und warnen Sie ihn. Sagen Sie ihm, daß ...«
»Zu ihm gehen?« keuchte O'Banyon. »Aber das kann ich nicht, Andara! Sie werden mich sofort wieder einfangen, wenn ich mich ...«
»Niemand wird Sie erkennen, O'Banyon«, sagte Andara ruhig, »keine Sorge. Ich verfüge nur noch über einen Bruchteil der Macht, über die ich einst gebot, aber sie reicht noch, Sie zu beschützen, wenn auch nur für kurze Zeit. Und jetzt hören Sie zu: Gehen Sie zu ihm. Suchen Sie ihn, und sagen Sie ihm, daß ich Sie schicke. Es gibt etwas, das er wissen muß. Sagen Sie ihm, daß dieses Dorf eine Falle ist, eine Falle, die für mich bestimmt war und nun ihm zum Verhängnis werden wird, wenn er nicht flieht. Donhill und Leyman sind Magier, und die Bestie draußen im See ist nur ein Werkzeug, das ihren Befehlen gehorcht.«