»Magier?« wiederholte O'Banyon ungläubig.
Andara nickte ungeduldig. »Sagen Sie es ihm einfach, O'Banyon. Und sagen Sie ihm, daß er fliehen muß. Er ahnt die Wahrheit bereits, aber es gibt etwas, das er nicht weiß: Sagen Sie ihm, daß es immer drei sind. Es gibt einen dritten Hexer hier im Ort. Er soll sich vor ihm in acht nehmen.«
»Aber wer? Warum ...«
»Ich weiß nicht, wer der dritte ist«, sagte Andara traurig. »Er ist stark, viel stärker als ich. Ich kann seine Identität nicht ergründen. Aber es gibt ihn, und er wird Robert vernichten, wenn er nicht flieht. Und jetzt gehen Sie, O'Banyon. Die Zeit wird knapp.«
»Aber warum gehen Sie nicht selbst?« fragte O'Banyon hastig. »Warum warnen Sie ihn nicht selbst vor der Gefahr?«
Andaras Gestalt begann zusehends an Substanz zu verlieren. »Weil ich es nicht kann«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich dünn und leise, nur noch ein schwacher Hauch, der kaum mehr zu verstehen war. »Es ist mir unmöglich, mich ihm zu nähern. Der dritte Magier verhindert es. Er weiß, daß ich hier bin. Er kann mir nicht schaden, aber er verhindert, daß ich Robert nahe komme. Und jetzt gehen Sie, O'Banyon, ich bitte Sie. Warnen Sie meinen Sohn. Sagen Sie ihm, es gibt einen dritten Magier!«
Seine Stimme war immer leiser geworden, und im gleichen Moment, in dem das letzte Wort verklungen war, verschwand seine Gestalt vom Fußende des Bettes, als wäre sie niemals dagewesen.
O'Banyon starrte die Stelle, an der die Erscheinung gesessen hatte, noch einen Moment lang an. Dann schwang er die Beine vom Bett, stand auf und ging langsam zum Ausgang.
Das metallene Türblatt schwang lautlos nach außen, als er sich der Tür näherte.
Die Schritte der Verfolger kamen unbarmherzig näher. Die Straße hinter uns war erfüllt vom Trappeln zahlloser Füße und dem aufgeregten Schreien aus Dutzenden von Kehlen. Ein Schuß krachte.
Der peitschende Knall riß mich vollends aus meiner Erstarrung. Nach dem, was Bannermann gerade getan hatte, würde der Mob garantiert keine Rücksicht mehr nehmen. Sie würden Bannermann und mich zerreißen, wenn Sie uns in die Finger bekamen.
Ich packte Bannermann bei der Schulter, zerrte ihn hinter mir her und rannte los, so schnell ich konnte. Mein Blick tastete verzweifelt über die Rückfronten der Häuser, die die Straße zu beiden Seiten flankierten. Es gab eine Anzahl Fenster - sogar eine Tür -, aber sie waren ausnahmslos verschlossen, und die Zeit, eines von ihnen aufzubrechen, würde uns nicht bleiben.
Wir erreichten das Ende der Gasse und blieben stehen. Ich ließ Bannermanns Arm los, sah mich verzweifelt um - und griff entschlossen nach dem rauhen Stein der Wand, die die Sackgasse begrenzte.
»Was haben Sie vor?« fragte Bannermann erschrocken. Sein Blick fiel zurück zum Ende der Gasse. Von den Verfolgern war noch keine Spur zu sehen, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, ehe sie auftauchten.
»Klettern!« antwortete ich gepreßt, während ich bereits die Finger in eine Mauerritze krallte und mich hochzuziehen versuchte. »Und zwar um mein Leben!«
»Aber das ist Wahnsinn!« keuchte Bannermann. »Sie werden uns wie die Tontauben herunterschießen, Craven!«
»Dann bleiben Sie doch hier!« brüllte ich. »Ich versuche es wenigstens. Ich ...«
Bannermann griff warnungslos nach meinem Arm, zerrte mich mit einem Ruck auf den Boden zurück und drehte mich reichlich unsanft herum, als ich protestieren wollte.
Kaum fünf Meter neben uns hatte sich eine schmale Tür in einer der Wände geöffnet. Eine kleinwüchsige, in einen dunkelbraunen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt war halb ins Freie getreten und winkte aufgeregt zu uns herüber. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen.
Ich überlegte nicht mehr. Vielleicht war es eine Falle. Vielleicht warteten hinter der Tür ein Dutzend entsicherter Gewehre auf Bannermann und mich, aber wir hatten nichts mehr zu verlieren.
Ich rannte los, stürmte durch die Tür und lief noch ein paar Schritte weiter, ehe ich dicht hinter Bannermann keuchend zum Stehen kam. Hinter uns fiel die Tür mit dumpfem Krachen ins Schloß und sperrte sowohl die Stimmen unserer Verfolger als auch das Tageslicht aus. Von einer Sekunde zur anderen wurde es dunkel. Alles, was blieb, war ein schwacher, grauer Schimmer, der kaum ausreichte, mehr als schemenhafte Umrisse zu erkennen.
Eine Hand berührte mich an der Schulter, stieß mich reichlich unsanft vorwärts und deutete den Gang hinab. »Schnell«, sagte eine Stimme. »Die Treppe hinauf. Sie werden gleich hier sein!«
Wir rannten los. Unser geheimnisvoller Retter führte uns über eine schmale, geländerlose Treppe ins obere Stockwerk des Gebäudes und einen weiteren, etwas besser erhellten Korridor entlang. Ich versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu erhäschen, aber der braune Kapuzenmantel machte es unmöglich, ihn genauer zu erkennen. Alles, was ich zu sehen glaubte, war, daß er sehr jung war.
Der Korridor endete vor einer niedrigen, schloßlosen Tür. Unser Führer stürmte mit gesenktem Kopf hindurch, wartete, bis Bannermann und ich ihm gefolgt waren, und warf die Tür ungeduldig hinter sich zu.
Der Raum, in den wir gelangten, maß kaum fünf Schritte im Rechteck und war äußerst spärlich möbliert. Die Luft roch nach Staub und kalt gewordenem Essen. Unser Retter eilte an mir vorüber, trat an den wuchtigen, dreitürigen Schrank, der zusammen mit einem Bett und einem wackeligen Tisch die gesamte Einrichtung des Zimmers bildete, öffnete die rechte Tür und schob ungeduldig die darin aufgehängten Kleider beiseite.
»Schnell!« sagte er. »Hier hinein!«
Ich tauschte einen verwunderten Blick mit Bannermann, gehorchte aber. Der Schrank war von innen geräumiger, als es ausgesehen hatte, aber Bannermann, ich und unser Retter füllten ihn doch fast bis zum Bersten aus. Hastig schloß er die Tür und hantierte einen Moment lang im Dunkeln herum.
Etwas klickte. Ein Teil der Rückwand löste sich und schwang quietschend nach außen. Helles Sonnenlicht blendete mich.
Ich blinzelte, hob die Hand vor die Augen und stolperte aus dem Schrank, als mir unser neuerworbener Freund schon wieder einen Stoß versetzte. »Beeilt euch!« keuchte er. »Und keinen Laut, oder wir sind alle drei tot!«
Ich stolperte vorwärts, stieß mir den Kopf an einem tiefhängenden Balken und ließ mich mit einem gemurmelten Fluch auf die Knie sinken. Neben mir plumpste Bannermann zu Boden und schüttelte benommen den Kopf.
Ich wollte eine Frage stellen, aber die Schrankwand schloß sich bereits wieder, und weniger als eine Sekunde später waren Bannermann und ich allein.
Verwirrt sah ich mich um. Wir waren in einer niedrigen, aber erstaunlich geräumigen Dachkammer, die wesentlich großzügiger und liebevoller eingerichtet war als das Zimmer auf der anderen Seite. Das Licht kam von oben durch zwei Lücken, wo die Dachziegel entfernt und geschickt durch genau zugeschnittene Glasplatten ersetzt worden waren. Der Raum war so niedrig, daß nicht einmal Bannermann aufrecht stehen konnte, ohne sich an den Balken zu stoßen, aber es gab eine Anzahl gemütlich aussehender Sessel, eine altmodische Chaiselongue und ein breites, sauber bezogenes Bett, so daß es nicht nötig war, zu stehen. An einer der Wände hingen sogar ein paar Bilder, und auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers stand eine Vase mit frisch geschnittenen Blumen.
Ich wollte aufstehen, aber Bannermann legte mir rasch die Hand auf den Unterarm, schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger über die Lippen.
Ich lauschte. Im ersten Moment vernahm ich nichts außer dem rasenden Hämmern meines eigenen Herzens und dem dumpfen Rauschen meines Blutes in den Ohren, dann hörte ich das gedämpfte Geräusch von Schritten durch die Schrankwand dringen, schließlich Stimmen.